Auch an deutschen Kinderkliniken werden bei schweren Erkrankungen Medikamente auf Cannabisbasis eingesetzt, wie wir bereits mehrfach berichteten. Die Saarbrücker Zeitung stellt den Fall eines zweijährigen Jungen mit Epilepsie vor.
Homburger Mediziner verschreibt Cannabis zum Wohl eines Kindes
Der zweieinhalb-jährige Luuk aus dem Saarland leidet an schwerer Epilepsie – Der Homburger Chefarzt Gottschling therapiert ihn mit THC.
Hanf-Medikamente für schwerkranke Kinder sind umstritten. Deshalb gibt es nur wenige Ärzte, die ihnen Cannabis verschreiben. Einer von ihnen ist Professor Gottschling. Zum Homburger Mediziner kommen besorgte Eltern aus ganz Deutschland.
Wenn Luuk einen epileptischen Anfall bekommt, kann er manchmal nicht mehr selbstständig atmen. Mit einem Beatmungsbeutel geben seine Eltern ihrem zweieinhalb-jährigen Sohn dann den nötigen Sauerstoff. Sechs verschiedene Anti-Epileptika haben die Ärzte im bisher kurzem Leben des kleinen Saarbrückers schon ausprobiert – die Nebenwirkungen sind teilweise gravierend: Von einem Medikament bekam er Nierensteine, die operativ entfernt werden mussten.
Luuk hat das Syndrom der Monosomie 1p36 – neben Epilepsie hat er verschiedene Herzfehler, kaum Kraft in der Muskulatur, ist hörgeschädigt und nahezu blind. Seine Eltern Nina Schaubitzer und Christoph Duymel suchten nach Behandlungswegen, die ihrem Sohn das Leben erleichtern können. Bei ihren Recherchen stießen sie auf Professor Sven Gottschling, Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum in Homburg. Er ist einer der wenigen Ärzte in Deutschland, die auch Kindern zu therapeutischen Zwecken Cannabis verschreiben. Etwa an Patienten, die von Krampfanfällen geplagt werden, mit multipler Sklerose oder Krebspatienten mit Schmerzen.
Bundesweit kommen die kleinen Patienten zu ihm – oft nach einer langen Odyssee von Behandlungen. Vor 15 Jahren setzte Gottschling Dronabinol – das den Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) der Cannabispflanze enthält – erstmals bei krebskranken Kindern ein, wenn auf anderen Wegen die Übelkeit nicht zu lindern war oder die Kinder nichts mehr gegessen haben. Mit jedem Kilogramm, das sie verloren, sank ihre Überlebenschance. „Da haben wir beeindruckende Effekte gesehen, haben uns belesen und immer weitere Anwendungsgebiete hinzu genommen“, sagt Gottschling. Eine besondere Qualifikation braucht er nicht, auch Auflagen gibt es keine. „Prinzipiell kann jeder Arzt das verschreiben und prinzipiell kann das auch jede Apotheke herstellen“, sagt er. Inzwischen rufen ihn viele Kollegen aus ganz Deutschland an und suchen seinen Rat.
Den Arzt ärgert es, dass in der öffentlichen Diskussion nicht differenziert werde zwischen „freies Kiffen für alle“ und „leichteren Zugang für Schwerkranke“. So finde keine vernünftige Auseinandersetzung statt – oft auch unter Ärzten nicht. Unter Kollegen erhält Gottschling nicht nur Zustimmung. So lehne auch der Präsident der deutschen Schmerzgesellschaft Cannabis als Medikament für Kinder wegen möglicher Risiken ab. Unter ärztlicher Aufsicht und richtig dosiert hat Gottschling bisher keine bleibenden Folgen erlebt. „Die Patienten bekommen kein Cannabis zum Rauchen in Form der Blüten, sondern Cannabinoide in Form von Tropfen oder Ölen. Die Dosierung ist individuell zugeschnitten“, erklärt er, „ich halte kein Plädoyer für Freigabe für alle, sondern für Ärzte, die sich damit auskennen und dies nach gründlicher Abwägung verschreiben.“
Die Wirkung der Cannabinoide sei stimmungsaufhellend, aber niemand müsse Angst vor einer Abhängigkeit haben. Opioide und freiverkäufliche Schmerzmittel könnten bei einer Überdosierung gravierende Folgen haben, bei Cannabinoiden seien diese nicht lebensbedrohlich.
Dass die Therapie mit Cannabis kein Wundermittel ist, verschweigt der Chefarzt den Eltern nicht: „Cannabinoide sind nicht nebenwirkungsfrei, wie eigentlich kein Medikament. Bei Luuk hätte seine Muskulatur noch schlaffer werden oder sich die Krampfaktivität erhöhen können. Der Einsatz muss wohl überlegt sein.“ Auch die Hirnentwicklung könne beeinflusst werden.
„Viele Eltern bekommen von ihrem Umfeld Vorwürfe zu hören: Wie könnt ihr euer Kind unter Drogen setzen?“, sagt Gottschling. Luuks Eltern gehen offensiv mit dem Thema um. Christoph Duymel kennt sich aus mit Cannabinoiden, hat ein Buch über den Drogenkonsum bei Jugendlichen geschrieben. „Unser Sohn bekommt kein Plätzchen für einen Rausch, sondern ein Medikament namens Dronabinol mit dem Wirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol)“, sagt Schaubitzer. Seit Januar bekommt Luuk dreimal am Tag über seine Magensonde 0,2 Milliliter der Arznei. „Die Anfälle haben sich in Anzahl und Ausprägung reduziert, es wirkt sich positiv auf seinen Schlaf-Wach-Rhythmus aus. Luuk ist nun tagsüber fitter. Insgesamt ist seine Gesamtlebensqualität gestiegen“, hat seine Mutter beobachtet. Der Appetit des kleinen Lockenschopfs habe sich leider nicht wie erhofft gesteigert. Wie lange er das Dronabinol bekommt, müsse abgewartet werden, meint Schaubitzer. Die Verschreibungsdauer ist bei Gottschlings Patienten unterschiedlich. „Zum Teil brauchen krebskranke Kinder das immer mal wieder für wenige Tage bis wenige Wochen als Überbrückungsmaßnahme, andere Kinder mit Spastik oder Epilepsieoder Schmerzen brauchen das für den Rest ihres Lebens“, sagt er. Ein paar seinerPatienten erhalten das Mittel seit über zehn Jahren.
Dronabinol ist in Deutschland zwar verschreibungsfähig, aber nicht zugelassen. Somit sind die Krankenkassen nicht verpflichtet, das Medikament zu bezahlen und können das Geld vom Arzt zurückfordern. Die Bundesregierung plant, dass ab 2016 die Verordnung über die Kasse abgerechnet werden kann. Doch noch ist alles in der Schwebe. Bei Kindern zahle in den meisten Fällen jedoch die Kasse die Cannabinoide – so auch bei Luuk. „Ich trage das Risiko, dass eine Kasse in einigen Jahren mich in Regress nimmt. Daher kann ich verstehen, wenn viele Kollegen kein Dronabinol verschreiben“, sagt Sven Gottschling. Die Klinik mische sich nicht ein – solange es keine Probleme gibt. „Sobald es Probleme gibt, steht man in der Regel als Verordner und damit Verantwortlicher alleine da.“
Dronabinol hat in Deutschland auch deswegen keine Zulassung, weil Studien fehlen, die die Wirksamkeit belegen. „Die Industrie hat kein Interesse, diese richtig teuren Studien zu finanzieren“, findet der Chefarzt. Denn Unternehmen könnten auf Cannabinoide kein Patent anmelden und mit der kleinen Gruppe kranker Kinder ließe sich nur wenig Geld verdienen. Er selbst hat eine kleine Studie vorbereitet, doch es fehlt das Geld – fast eine halbe Million EURo wären nötig. Mehr Sicherheit für die Ärzte bei der Verschreibung von Cannabis wünschen sich auch Luuks Eltern, denn in Deutschland leben 400 000 Kinder mit chronischen Schmerzen.
Zum Thema:
Hintergrund: In Deutschland gibt es nur ein zugelassenes Cannabis-Präparat, Sativex. Es ist ein Spray zur Anwendung in der Mundhöhle und soll Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von Multipler Sklerose, die nicht angemessen auf eine andere antispastische Therapie angesprochen haben und die eine klinisch erhebliche Verbesserung von mit der Spastik verbundenen Symptomen während eines Anfangstherapieversuchs aufzeigen. Die Kassenärztliche Vereinigung des Saarlandes teilt mit, dass im Jahr 2014 dieses Arzneimittel 270-mal verordnet wurde, die Kosten belaufen sich auf brutto 104 434,89 EURo.