Die Wiener Zeitung sprach mit Dr. Kurt Blaas, der in Österreich die mit Abstand größte Erfahrung bein Einsatz von Cannabis-basierten Medikamenten bei seinen Patienten hat. Blaas fordert auch für Österreich die Verschreibungsfähigkeit von Cannabisblüten, wie dies in Kürze in Deutschland möglich sein wird.
Cannabis-Medizin: „Die Pharmaindustrie lauert und wartet“
Gegen Schmerzen, Nervenerkrankungen, Migräne, gegen schwere Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Epilepsie, aber auch gegen Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen ist ein Kraut gewachsen: Cannabis, bis vor kurzem noch mehrheitlich als gefährliche Einstiegsdroge verteufelt, erlebt als Medikament eine enorme Renaissance. Deutsche Patienten, die in immer größerer Zahl nach Cannabis verlangen, können sich nun über einen Erfolg freuen.
Mit einer entsprechenden Genehmigung konnten sie sich zwar auch bisher schon Hanfblüten in der Apotheke besorgen, die Kosten mussten sie aber selbst tragen. Nach einer Gesetzesänderung sind nun die deutschen Kassen verpflichtet, bei ärztlicher Verschreibung die Kosten für das natürliche Cannabis zu übernehmen. Gleichzeitig müssen betroffene Patienten Daten zu ihrem Therapieverlauf an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weitergeben, wo diese in einer Studie ausgewertet werden. Der Eigenanbau bleibt aber auch in Deutschland strafbar, die Apotheken beziehen natürliche Cannabisblüten künftig von staatlich kontrollierten, aber privaten Züchtern. Der Allgemeinmediziner und Cannabis-Arzt Kurt Blaas hat mit der „Wiener Zeitung“ über die Vorteile von natürlichem Cannabis, über Patientenwünsche, Krankheitsbilder und die Forschung gesprochen.
Beim Informationsstand zu Cannabis als Medikament gebe es ein Ost-West-Gefälle, sagt Kurt Blaas. Die Hälfte seiner Patienten kommt aus den westlichen Bundesländern.
„Wiener Zeitung“: Nach der Gesetzesnovelle in Deutschland hat das österreichische Gesundheitsministerium angekündigt, bis zum Frühjahr ein Expertengremium einzurichten. Die Besetzung des Gremiums ist noch nicht einmal fix, da meldet sich schon der Schmerzmediziner Hans-Georg Kress und sagt, es mache keinen Sinn, Cannabis einfach für medizinische Zwecke freizugeben. Schmerzlindernde Effekte seien nur bei pharmazeutisch hergestellten Cannabinoid-Medikamenten nachgewiesen. Sehen Sie das anders?
Kurt Blaas: Das sagt ein Wissenschafter, der mit Mono-Produkten viel besser arbeiten kann als mit einem Extrakt oder einer Lösung oder einem Mehrfachpräparat, weil er damit schneller Studien machen kann. Und weil er ein Technokrat ist, der gewohnt ist, mit industriell hergestellten Produkten zu arbeiten.
Herr Dr. Kress ist sicher ein hervorragender Schmerzmediziner und Anästhesist, aber die Schmerzmedizin ist nur ein Aufhänger in der Cannabis-Debatte. Nur rund ein Drittel meiner Patienten sind Schmerzpatienten, der Rest hat andere Krankheiten: Psychische Probleme, Schlaflosigkeit, neurologische Probleme, auch Tumor-Patienten sind dabei. Es geht nicht nur um Schmerzen, sondern auch um andere, beispielsweise psychische oder nervöse, Erkrankungen. Darüber wird aber nicht geredet. In einem Expertengremium müssen nicht nur Schmerzmediziner, sondern auch Pharmakologen, Forscher, Public Healthcare-Experten und eben auch Allgemeinärzte vertreten sind. Wir wissen, wie die Realität der Patienten aussieht.
Was wollen Ihre Patienten?
Seit zwei Monaten beobachten wir eine neue Entwicklung. Die Patienten kommen nicht mehr nur mit dem Wunsch nach einem Cannabis-Medikament, sondern bringen gleich fertige Präparate oder auch Pflanzen mit: „Ich habe das über einen Freund aus Kroatien bezogen“ oder „ich kenne einen Professor in Slowenien, der stellt das her“, das höre ich häufig. Die Patienten wollen dann nur mehr wissen, wie viel sie davon nehmen sollen oder wie viel THC (Hauptinhaltsstoff, berauschend, Anm.) enthalten sein soll, damit es auf die Diagnose passt. Dann besorgen sie sich die Präparate im Ausland.
Häufig kommen Leute und wollen, dass ich Blüten verschreibe, was ich nicht kann. Etwa ein Drittel der Leute will das Cannabis selbst anbauen, ist aber enttäuscht, dass es in Cannabis-Shops nur Setzlinge zu kaufen gibt, weil THC-haltige Blüten nach wie vor illegal sind. Die Leute informieren sich über das Internet, wobei dies oft zu einer Überforderung fühlt. Deshalb, und auch wegen des großen Andrangs, halten wir jetzt einmal pro Monat vorab Info-Veranstaltungen ab, zu denen bis zu 70 Leute kommen, um sich zu informieren.
Wieso gibt es zwar seit einiger Zeit synthetische oder auch natürliche Extrakte wie Dronabinol (THC in Reinform, Anm.) oder Cannabidiol (CBD, entzündungshemmender, nicht-berauschender Stoff, Anm.), bei den Blüten aber so großen Widerstand?
Das hängt sicher auch mit der Pharma-Lobby zusammen. Eine Pflanze kann man eben nicht patentieren lassen. Mit Reinstoffen lässt es sich besser testen und produzieren. Deshalb ist die deutsche Entscheidung zu begrüßen: Es wird ja eine Begleitstudie geben, so kann die Wirksamkeit der natürlichen Pflanze besser erforscht werden. Genau das passiert auch in Israel, wo Patienten mehrheitlich natürliche Produkte bekommen. Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen: Vielen Leuten helfen die Präparate, aber andere wollen die Blüten, haben sie bereits probiert und sind überzeugt, dass die ihnen besser helfen. Nur auf synthetische Produkte zu fokussieren, geht an der Realität der Patienten vorbei. Dennoch lauert die Pharmaindustrie und wartet, bis Cannabis in der Medizin fester verankert ist. Einzelne Konzerne haben bereits neue Produkte in der Schublade. Dronabinol gibt es ja noch nicht als Fertigprodukt, da ist etwa die deutsche Firma Bionorica dran.
Würde eine medizinische Liberalisierung bei Blüten nicht auch Missbrauch ermöglichen?
Das denke ich nicht. Patienten müssen, auch bei mir, ohnehin eine fundierte Diagnose eines Facharztes vorlegen. Gleichzeitig zu diagnostizieren und zu verschrieben, das finde ich problematisch. Und eine Situation wie in den USA, wo man sich bei Ärzten quasi ein Attest holt und sich dann Cannabis für den Freizeitgebrauch kauft, darf es bei uns nicht geben.
Mit welchen Krankheitsbildern kommen die Patienten zu Ihnen?
Natürlich kommen schwer Kranke mit Multipler Sklerose, Kinder mit Epilepsie, oder auch Krebs- oder HIV-Patienten. Eine wachsende Gruppe sind aber Patienten zwischen 30 und 50, die voll im Arbeitsleben stehen. Sie kommen mit Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzuständen oder haben ein Burnout hinter sich. Viele von ihnen wollen natürliches Cannabis, haben aber Angst vor Kriminalisierung. Es ist kein Wunder, dass Cannabis Konjunktur hat. Es passt in unsere Zeit. Stressbedingte Erkrankungen nehmen eben zu, und Cannabis hilft vielen.
Wäre ein Kriterienkatalog bei natürlichem Cannabis sinnvoll, wenn der Zugang liberalisiert wird?
Bei Präparaten bin ich dagegen, bei medizinischem Cannabis dafür. Vor allem aber braucht es Zeit für die Diagnose. Auf Neuroleptika oder Antidepressiva zu setzen ist einfach, sie werden auch rasch verschrieben. Bei Cannabis reicht eine Stunde Gespräch eben nicht aus, um die Verträglichkeit bei seelischen Störungen abschätzen zu können.
Wie wird Cannabis-Medizin von den Krankenkassen wahrgenommen?
Für die Kassen muss ich größtenteils eine Lanze brechen, auch wenn es beim Informationsstand, wie auch bei den Ärzten, ein großes Ost-West-Gefälle gibt. Das Verständnis für die Patienten wächst, bei Schwerkranken wird meist gezahlt. Bei weniger schwer Kranken gibt es aber oft kein Geld.