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Presseschau: Medizinisches Cannabis: Die wichtigsten Änderungen (Deutsches Ärzteblatt)

In einem Übersichtsbeitrag für das Deutsche Ärzteblatt erläutern Proferssorin Kirsten Müller-Vahl und Dr. Franjo Grotenhermen die wichtigsten Änderungen des verabschiedeten Gesetzes für Ärzte

Müller-Vahl K, Grotenhermen F. Medizinisches Cannabis: Die wichtigsten Änderungen. Dtsch Arztebl 2017; 114(8): A-352 / B-306 / C-300

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur „Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ am 1. März ist medizinisches Cannabis in Deutschland erstmals verschreibungsfähig. Fragen und Antworten für verordnende Ärzte.

Ärztinnen und Ärzte jeder Fachrichtung können ab 1. März Cannabisblüten und Extrakte aus Cannabis mittels Betäubungsmittel-(BtM-)Rezept verordnen. Hierfür ist keine besondere Qualifikation erforderlich. Das bisherige Verfahren entfällt damit, dass Patienten bei der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zum Erwerb einer standardisierten Cannabisextraktzubereitung oder von Medizinal-Cannabisblüten zur Anwendung im Rahmen einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie beantragen müssen.

Was ändert sich im Hinblick auf die Verordnung anderer Cannabis-basierter Medikamente?
Alle anderen bisher in Deutschland bereits verschreibungsfähigen Cannabis-basierten Medikamente können auch weiterhin unverändert verordnet werden. Allerdings besteht unverändert nur für das Mundspray Nabiximols (Sativex®) eine arzneimittelrechtliche Zulassung für die Therapie der mittelschweren bis schweren Spastik bei Erwachsenen mit Multipler Sklerose (MS). Der Cannabisextrakt Nabiximols (bestehend aus einer Kombination von Tetrahydrocannabinol [THC] und Cannabidiol [CBD]), kann in anderen Indikationen aber ebenso off-label verschrieben werden wie die THC-Wirkstoffe Dronabinol und Nabilon. Vor einer Off-Label-Verordnung (per Kassenrezept) sollte stets eine Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt werden. Im Gesetz heißt es dazu ausdrücklich, dass „auch in Deutschland zugelassene Fertigarzneimittel (zum Beispiel Sativex®) … unter diese Regelung“ fallen und dass Versicherte „in denselben begrenzten Ausnahmefällen … einen Anspruch auf Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon erhalten“. Es ist somit zu erwarten, dass das neue Gesetz die Verschreibungsmöglichkeiten aller Cannabis-basierten Medikamente verbessert.

Welchen Patienten kann Cannabis verordnet werden?
Im Gesetz wurde ausdrücklich darauf verzichtet, einzelne Indikationen aufzuführen. Cannabisblüten und -extrakte können daher für jede Indikation verordnet werden, wenn „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht“ oder wenn diese Leistung „im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann“. Dies bedeutet, dass eine Behandlung mit Cannabis auch dann eingeleitet werden kann, wenn theoretisch noch weitere, bisher nicht eingesetzte (zugelassene) Behandlungen zur Verfügung stehen und der Patient noch nicht „austherapiert“ ist.

Bei welchen Indikationen ist Cannabis wirksam?
Bereits aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, im Gesetz einzelne Indikationen aufzuführen, wird deutlich, dass bis heute unbekannt ist, bei welchen Erkrankungen oder Symptomen Cannabis indiziert ist. Aktuell besteht für Cannabis für keine einzige Indikation eine Zulassung. In den Jahren 2007 bis 2016 erhielten allerdings Patienten mit mehr als 50 verschiedenen Erkrankungen/Symptomen eine Ausnahmeerlaubnis vom BfArM für eine ärztlich begleitete Selbsttherapie mit Medizinal-Cannabis. Es wird daher allgemein angenommen, dass Cannabis ein sehr breites therapeutisches Spektrum hat.

Als etablierte Indikationen für Cannabis-basierte Medikamente gelten chronische – insbesondere neuropathische – Schmerzen, Spastik bei MS, Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen. Hinweise für positive Wirkungen reichen von neurologischen (Spastik und Schmerzen unterschiedlicher Ursachen, hyperkinetische Bewegungsstörungen), über dermatologische (Neurodermitis, Psoriasis, Akne inversa, Hyperhidrosis), ophthalmologische (Glaukom) und internistische (Arthritis, Colitis ulzerosa, Morbus Crohn) bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen/Symptomen (Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung [ADHS], Schlafstörungen).

Wann übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten der Behandlung?
Vor Behandlungsbeginn muss eine Genehmigung der Krankenkasse erteilt werden, sofern die Behandlung zu ihren Lasten erfolgen soll. Allerdings heißt es im Gesetz, dass dieser Antrag „nur in begründeten Ausnahmefällen“ von der Krankenkasse abgelehnt werden darf. Über die Anträge soll – auch bei Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen – innerhalb von 3–5 Wochen entschieden werden. Erfolgt die Verordnung im Rahmen einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung nach § 37 b, verkürzt sich die Genehmigungsfrist auf drei Tage. Eine Verordnung mittels Privatrezept kann jederzeit und für jede Indikation unabhängig von einer Genehmigung durch die Krankenkasse erfolgen.

Wie genau wird Cannabis verschrieben?
Die Verschreibungshöchstmenge für Cannabis beträgt 100 000 mg (100 g) in 30 Tagen. Zwecks einfacherer Handhabbarkeit wurde die Höchstmenge unabhängig vom Gehalt einzelner Cannabinoide in der jeweiligen Cannabissorte festgelegt. Derzeit können Cannabisblüten mit einem Gehalt an THC – dem am stärksten psychotrop wirksamen – Cannabinoid von circa ein bis circa 22 % verordnet werden. Bei einer Verschreibung von 100 g Cannabis kann die verordnete Menge an THC daher zwischen 100 und 22 000 mg schwanken. Auf dem Rezept muss neben der Menge auch die Cannabissorte angegeben werden. Es können auch verschiedene Sorten mit unterschiedlichen THC-Gehalten gleichzeitig auf einem Rezept verschrieben werden. Wie auch sonst bei der Verschreibung BtM-pflichtiger Substanzen kann im begründeten Einzelfall durch Kennzeichnung mit dem Buchstaben „A“ von der festgesetzten Höchstmenge abgewichen werden. Da Cannabisblüten üblicherweise in Dosen à 5 oder 10 g abgegeben werden, empfiehlt sich eine Verschreibung in diesen Schritten. Eine Verordnung könnte beispielsweise so lauten: „Cannabisblüten Sorte Bedrocan, 15 g, Dosierung gemäß schriftlicher Anweisung“.

Welche Cannabissorten können verordnet werden?
Aktuell können ausschließlich aus dem Ausland (Niederlande, Kanada) importierte Cannabissorten verordnet werden. Alle 13 derzeit verfügbaren Sorten sind auf den Gehalt der Cannabinoide THC und CBD standardisiert, enthalten darüber hinaus aber in geringer Konzentration eine große Zahl weiterer (nicht ausgewiesener) Cannabiswirkstoffe und Terpene, die die Gesamtwirkung beeinflussen können (Tabelle 1). Um langfristig eine ausreichende Versorgung mit Cannabisarzneimitteln in standardisierter Qualität sicherzustellen, wurde dem BfArM die Aufgabe übertragen, eine Cannabisagentur einzurichten, sodass demnächst ein staatlich überwachter Cannabisanbau in Deutschland erlaubt sein wird. Mit der Verfügbarkeit von Cannabisblüten aus Deutschland wird allerdings erst in 2–3 Jahren gerechnet.

Bei welcher Indikation ist welche Cannabissorte am wirksamsten?
Diese Frage kann zurzeit nicht beantwortet werden. Die Mehrzahl der Patienten bevorzugt Cannabissorten mit höherem THC-Gehalt (> 10 %). In einzelnen Indikationen (etwa seltene kindliche Epilepsien) erwies sich aber auch reines CBD (ohne THC) als wirksam.

Wie werden Cannabisblüten dosiert?
Alle Cannabis-basierten Medikamente und so auch Cannabisblüten und -extrakte sollten einschleichend dosiert werden. Je nach THC-Gehalt sollte die Anfangsdosis bei 25–50 mg Cannabisblüten (bei Sorten mit einem höheren THC-Gehalt > 10 %) und maximal 100 mg Cannabisblüten bei geringem THC-Gehalt pro Tag betragen. Je nach Wirksamkeit und Verträglichkeit sollte die Dosis um circa 2,5–5 mg THC (entsprechend je nach Sorte circa 25–100 mg Cannabis) alle 1–3 Tage gesteigert werden. Tagesdosen von THC-reichen Cannabissorten liegen bisherigen Erfahrungen zufolge oft zwischen 0,2 und 3 g, mit Schwankungen von 0,05–10 g. Die im Gesetz festgelegte Verschreibungshöchstmenge von 100 g Cannabis pro 30 Tage orientierte sich an den in den letzten Jahren gesammelten Erfahrungen des BfArM im Rahmen der Erlaubniserteilungen für eine Selbsttherapie mit Medizinal-Cannabis. Nach heutigem Kenntnisstand schwanken die erforderlichen Dosierungen Cannabis-basierter Medikamente interindividuell sehr stark und können – zumindest gegenwärtig – nicht mit hinreichender Genauigkeit für einzelne Indikationen angegeben werden. Wie häufig die Einnahme pro Tag erfolgen soll, richtet sich nach der Einnahmeart, Indikation und Wirkdauer und muss individuell in Absprache zwischen Arzt und Patient ermittelt werden.

Welche Einnahmearten sind möglich?
Grundsätzlich kann Cannabis inhaliert oder oral aufgenommen werden. Eine Inhalation ist durch Rauchen und Verdampfen (mittels Vaporisator) möglich. Der große Vorteil des Verdampfens liegt darin, dass keine potenziell schädigenden verbrannten Pflanzenmaterialien (wie beim Rauchen) eingeatmet werden. Die Pharmakokinetik von THC und anderen Cannabinoiden ist bei inhalativer Aufnahme sehr verschieden von der bei oraler Aufnahme hinsichtlich Wirkeintritt, -stärke und -dauer (Tabelle 2). Welche Einnahmeart günstiger ist, hängt vom Wunsch des Patienten, der Indikation und gegebenenfalls Begleiterkrankungen ab. In Einzelfällen kann auch eine kombinierte orale und inhalative Einnahme sinnvoll sein.

Welche Nebenwirkungen können eintreten?
Akute Nebenwirkungen betreffen vor allem die Psyche und Psychomotorik (Euphorie, Angst, Müdigkeit, reduzierte psychomotorische Leistungsfähigkeit) sowie Herz und Kreislauf (Tachykardie, Blutdruckabfall, Schwindel, Synkope). Bei regelmäßiger Einnahme tritt meist eine Gewöhnung ein, sodass Cannabis-basierte Medikamente allgemein als gut verträglich gelten.

Welche Kontraindikationen bestehen?
Cannabis sollte bei Bestehen einer schweren Persönlichkeitsstörung, Psychose und schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Schwangeren und stillenden Müttern nicht verordnet werden. Wegen fehlender Daten sollte die Behandlung von Kindern und Jugendlichen (vor der Pubertät) sehr sorgfältig abgewogen werden. Besonders bei älteren Patienten können stärkere zentralnervöse und kardiovaskuläre Nebenwirkungen auftreten.

Kann eine Abhängigkeit eintreten?
Bisher wurde kein Fall einer Cannabisabhängigkeit infolge einer ärztlich überwachten Therapie publiziert, wenn eine Behandlung mit Cannabis oder einem Cannabis-basierten Medikament aus medizinischer Indikation erfolgte und keine der oben genannten Kontraindikationen bestand. Besonders bei abrupter Beendigung einer Therapie können gering bis mäßig ausgeprägte Entzugssymptome auftreten.

Was müssen Vertragsärzte noch beachten?
Laut Gesetz muss der verordnende Arzt an einer nicht interventionellen, ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dienenden Begleiterhebung teilnehmen. Ist der Arzt dazu nicht bereit, ist eine Kostenerstattung durch die Krankenkasse ausgeschlossen. Der Patient muss vor Erstverordnung durch den Arzt über die Datenerfassung informiert werden. Die Begleiterhebung ist für einen Zeitraum von 5 Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes geplant. Der Arzt muss für jeden einzelnen Patienten, der mit Cannabis behandelt wird, anonymisiert Daten zu Alter, Geschlecht, Diagnose, früheren und aktuellen Behandlungen sowie den Verordnungsgrund für die Behandlung mit Cannabis inklusive Dosis, Wirksamkeit, Verträglichkeit und Lebensqualität an das BfArM übermitteln.

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