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Das Landessozialgericht Hamburg stärkt die Einschätzung der behandelnden Ärzte gegenüber Gutachtern der Krankenkassen

Das Landessozialgericht Hamburg hat am 2.4.2019 in einem Urteil (L 1 KR 16/19 B ER ) die Rechte von Ärzten gegenüber den Krankenversicherungen gestärkt. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass nach dem Gesetz die Krankenkassen einen Antrag auf eine Kostenübernahme nur in Ausnahmefällen ablehnen dürfen und damit den gleichlautenden Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 2018 bestätigt. Das Landessozialgericht unterstreicht mit seinem Urteil die Therapiehoheit des behandelnden Arztes gegen die Auffassung der Gutachter des MDK. Die zuständige Krankenkasse muss die Kosten für die Behandlung des Patienten mit Cannabisblüten im Rahmen einer einstweiligen Anordnung übernehmen.

Das Gericht ist nicht der Auffassung des Gutachters der Krankenkasse gefolgt, nach der es unwahrscheinlich sei, dass Cannabisblüten bei dem Patienten wirksam sein können, wenn der Cannabisextrakt Sativex® nicht wirksam ist.

Die Richter schreiben dazu in der Begründung des Urteils, dass diese Argumentation „auf einem fehlerhaften Verständnis“ des Gesetzes beruhen dürfte. Der Patient, der an Multiple Sklerose leidet, habe die gesetzlichen Voraussetzungen „auch zur Überzeugung des Senats insoweit hinreichend glaubhaft gemacht worden, als eine Folgenabwägung zu seinen Gunsten ausfällt“. Und weiter: „Maßgebend hierfür sind zunächst die bereits vom Sozialgericht aufgeführten medizinischen Ausführungen der behandelnden (Vertrags-) Ärzte des Antragstellers, insbesondere derjenigen von Frau Dr. K. vom 8. Februar, 8. Juni und 28. September 2018.“

Zur Wertigkeit der Stellungnahmen der behandelnden Ärzte gegenüber dem von der Krankenkasse beauftragten Gutachter schreibt das Gericht. Soweit die Krankenkasse „in ihrem Beschwerdeschriftsatz 28. Januar 2019 auf ein Gutachten von Prof. Dr. T., Direktor der neurologischen Universitätsklinik B. in B1, Bezug nimmt und darauf hinweist, dass dieser einen positiven Effekt von Medizinal-Cannabisblüten auf die schmerzhafte Spastik bei fehlendem Ansprechen auf Sativex als unwahrscheinlich erachte, überzeugt dies nicht.“

Begründung des Urteils

In der Begründung schreiben die Richter des Landessozialgerichts: „Die mit der Beschwerde von der Antragsgegnerin [die Krankenkasse] geltend gemachten Argumente gegen den zugrundeliegenden Beschluss des Sozialgerichts überzeugen nicht. Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – soweit es zugesprochen hat – sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend entsprochen. (…)

a) Die Antragsgegnerin [die Krankenkasse] gründet ihre Beschwerde unter Bezugnahme auf ihren Widerspruchsbescheid, ihre Argumente vor dem Sozialgericht und die Ausführungen des MDK [Medizinischer Dienst der Krankenkassen] im Wesentlichen darauf, dass es für den Antragsteller mit dem Medikament Sativex eine vertragliche Alternative zu den vom Antragsteller präferierten Cannabisblüten gäbe und er bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auch hierauf verwiesen werden könne.

Diese Argumentation dürfte auf einem fehlerhaften Verständnis der zugrundeliegenden Norm des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V – beruhen. Nach dieser Bestimmung haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.

Die vorgenannten gesetzlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V sind von dem Antragsteller auch zur Überzeugung des Senats insoweit hinreichend glaubhaft gemacht worden, als eine Folgenabwägung zu seinen Gunsten ausfällt. Vom Sozialgericht wurde insoweit zunächst zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller bereits seit Jahren an einer schwerwiegenden Erkrankung in Form der Multiplen Sklerose leidet. Bei der Definition der schwerwiegenden Erkrankung schließt sich der Senat dem LSG Nordrhein-Westfalen an, (…) Es müsse sich daher um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (…).

Der Antragsgegnerin ist zuzugeben, dass Sativex ein in diesem Kontext probates verschreibungsfähiges Medikament ist, um die in Verbindung mit Multipler Sklerose stehenden Symptome der Muskelsteife (Spastik) zu lindern. Insoweit dürfte Sativex auch unter die Regelung von § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V fallen, als es ein allgemein anerkanntes, dem medizinischen Standard entsprechendes Medizinprodukt für diese Fälle darstellt (…).

Nicht folgen kann der Senat der Antragsgegnerin jedoch in ihrer Einschätzung, dass ein Fertigarzneimittel der Verordnung von Cannabis in alternativen Darreichungsformen vorzugehen hat. Denn § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V stellt den Anspruch auf Versorgung mit Cannabis unter zwei alternative Voraussetzungen. Gemäß lit. a) von S. 1 besteht der Anspruch, wenn eine allgemein anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende Leistung fehlt „oder“ diese nach lit. b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann. Vorliegend teilt der Senat die Auffassung des Sozialgerichts, wonach es sich hier um einen Fall von lit. b) handeln dürfte und auch die in S.1 Nr. 2 der Norm postulierte weitere Voraussetzung einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Maßgebend hierfür sind zunächst die bereits vom Sozialgericht aufgeführten medizinischen Ausführungen der behandelnden (Vertrags-) Ärzte des Antragstellers, insbesondere derjenigen von Frau Dr. K. vom 8. Februar, 8. Juni und 28. September 2018, letztere auf Anforderung des Sozialgerichts. Dass es hierauf, anders als bei anderen leistungsbegründenden Normen des SGB V, bei denen die Einschätzung des Vertragsarztes nicht tatbestandsmäßig benannt ist, in besonderer Weise ankommt, wird schon aus der Formulierung der Vorschrift deutlich. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Einführung von § 31 Abs. 6 SGB V auch den Zweck gehabt hat, die Therapiehoheit der behandelnden Ärzte zu stärken. Mit der Einfügung des lit. b) im Gesetzgebungsverfahren sollte nämlich ausdrücklich klargestellt werden, dass auch dann vom Fehlen der Behandlungsalternativen auszugehen ist, wenn im konkreten Fall zwar abstrakt noch andere, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen in Erwägung gezogen werden können, der behandelnde Vertragsarzt im konkreten Fall aber zu der begründeten Einschätzung kommt, dass diese anderen Maßnahmen unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen können (BT-Drs 18/10902 S. 19). Erforderlich ist insoweit eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter Abwägung der bisherigen Therapieversuche, konkret zu erwartender Nebenwirkungen der Standardtherapie und Nebenwirkungen der Cannabinoidtherapie. Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Beschwerdeschriftsatz 28. Januar 2019 auf ein Gutachten von Prof. Dr. T., Direktor der neurologischen Universitätsklinik B. in B1, Bezug nimmt und darauf hinweist, dass dieser einen positiven Effekt von Medizinal-Cannabisblüten auf die schmerzhafte Spastik bei fehlendem Ansprechen auf Sativex als unwahrscheinlich erachte, überzeugt dies nicht. Eine medizinische Würdigung der Begründung für die streitbefangene Verordnung durch die Antragsgegnerin kommt nicht in Betracht. (…)“

Der Ausschuss für Gesundheit formuliert (BT-Drucks. 18/10902 S. 20): „Die Versorgung von Versicherten mit schwerwiegenden Erkrankungen soll durch den Anspruch auf Versorgung mit Cannabis nach Satz 1 verbessert werden. Die Genehmigungsanträge bei der Erstverordnung der Leistung sind daher nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen. Damit wird auch der Bedeutung der Therapiehoheit des Vertragsarztes oder der Vertragsärztin Rechnung getragen.“

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