Eine der häufigsten Fragen in E-Mails an die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin befasst sich mit der Krebsheilung durch Cannabisprodukte. In einer E-Mail fragt eine junge Frau nach den Möglichkeiten einer Behandlung mit Bediol. Sie leide an Brustkrebs mit Metastasenbildung, also einem Krebs, der bereits Tochtergeschwülste gebildet hat. Sie habe im Internet gelesen, dass CBD bei dieser Erkrankung hilfreich sei. Die Sorte Bediol des niederländischen Unternehmens Bedrocan enthält gleiche Anteile THC und CBD (Cannabidiol). Andere fragen, wie sie an Hanf-Öl, das nach der Rick-Simpson-Methode hergestellt wurde, gelangen können. Wer an Krebs leidet und sehr konkret mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert ist, ist bereit, vieles auszuprobieren, viel zu riskieren und auch viel Geld auszugeben, wenn eine Aussicht auf Erfolg besteht.
Es ist nicht einfach, auf diese Fragen eine angemessene Antwort zu finden. Dies liegt daran, dass wir einerseits bisher sehr wenig über den Einfluss von Cannabis bzw. einzelnen Cannabinoiden auf den Verlauf von Krebserkrankungen beim Menschen wissen und andererseits viele Ergebnisse aus der Grundlagenforschung ein krebshemmendes Potenzial verschiedener Cannabinoide nahe legen. Wo liegt die richtige Balance zwischen dem wichtigen Mutmachen bei einer solchen Diagnose und dem Wecken falscher Hoffnungen? Was würde ich sagen, wenn mich ein guter Freund oder eine nahe Verwandte zu diesem Thema um Rat fragen würde?
[well]Was ist heute bekannt?[/well]
Cannabinoide weisen bei Krebspatienten lindernde Eigenschaften auf, indem sie Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen verhindern und den Appetit steigern. Zudem hemmen diese Substanzen bei Labortieren – Mäusen und Ratten – das Wachstum von Tumorzellen. Allerdings gibt es zur Zeit keine zuverlässigen Beweise, nach denen Cannabinoide wirksam Krebs bei Patienten heilen können, auch wenn in diesem Bereich viel geforscht wird.
[well]Cannabis ist wirksam bei der Linderung von Symptomen von Krebspatienten[/well]
Eine Gruppe israelischer Wissenschaftler analysierte Daten von 2970 Krebspatienten, die zwischen 2015 und 2017 mit medizinischem Cannabis behandelt wurden, und fanden nützliche Wirkungen auf viele Symptome. Das Durchschnittsalter lag bei 59,5 Jahren, und 54,6 % waren Frauen. Etwa ein Viertel (26,7 %) hatte Vorerfahrungen mit der Droge. Die häufigsten Krebsarten betrafen die Brust (20,7 %), die Lunge (13,6 %), die Bauchspeicheldrüse (8,1 %) und den Darm (7,9 %).
Nach 6 Monaten waren 902 Patienten gestorben, und 682 hatten die Behandlung abgebrochen. Von den übrigen antworteten 1211 Patienten (60,6 %), und 95,9 % gaben eine Verbesserung ihres Zustandes durch Cannabis an, 45 Patienten (3,7 %) gaben keine Änderung und 4 Patienten (0,3 %) eine Verschlechterung ihres medizinischen Zustandes an. Die häufigsten Symptome waren Schlafstörungen (78%), Schmerzen (78%), Schwäche (73%), Übelkeit (65%) und mangelnder Appetit (49%). Die Autoren folgerten, dass Cannabis „als eine palliative Behandlung von Krebspatienten eine gut verträgliche, wirksame und sichere Option darstellt, um Menschen zu helfen, durch bösartige Erkrankungen verursachte Symptome zu bewältigen“.
[well]Was ist Krebs und Hemmen Cannabinoide das Krebswachstum?[/well]
Krebs ist ein breit verwendeter Begriff für Krankheiten, in denen sich Zellen ohne Kontrolle teilen und im Allgemeinen in andere Gewebe eindringen können. Krebs ist nicht nur eine Erkrankung, sondern viele Erkrankungen: Mehr als hundert verschiedene Krebsarten werden von der Weltgesundheitsorganisation hinsichtlich ihrer feingeweblichen Charakteristika beschrieben und wahrscheinlich gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende Krebsarten, wenn man sie hinsichtlich ihrer molekularen und genetischen Profile betrachtet.
Nahezu die gesamte Forschung zu Cannabinoiden und Krebszellen wurde bisher mit Krebszellen, die im Labor gezüchtet wurden, und in Tiermodellen durchgeführt. Viele wissenschaftliche Studien haben davon berichtet, dass verschiedene Cannabinoide ein breites Spektrum an wachstumshemmenden Wirkungen auf Krebszellen ausüben. Dazu zählen die Auslösung des programmierten Zelltodes, die Unterbrechung der Zellteilung, die Verhinderung der Bildung neuer Blutgefäße in Tumoren sowie die Reduzierung der Möglichkeiten von Krebszellen, Tochtergeschwülste im Körper zu bilden.
Beispiel 1: THC zerstört Hirnkrebs im Tierversuch
Aufsehen erregte das Ergebnis einer Studie spanischer Wissenschaftler, die im Jahr 2000 in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Danach verursachten THC und ein synthetisches Cannabinoid bei Laborratten einen deutlichen Rückgang einer im Allgemeinen tödlichen Form von Gehirnkrebs. Bei 45 Ratten wurden dazu maligne Gliome induziert, ein schnell zum Tode führender Krebs, für den es gegenwärtig keine Behandlung gibt. Ein Drittel der Tiere wurde mit THC behandelt, ein weiteres mit dem synthetischen Cannabinoid WIN-55,212-2, und das restliche Drittel blieb unbehandelt. Die unbehandelten Ratten starben alle innerhalb von 18 Tagen. Die beiden Cannabinoide hatten allerdings einen dramatischen Effekt. Innerhalb von sieben Tagen zerstörten sie die Tumoren bei einem Drittel der behandelten Tiere und verlängerten das Leben eines weiteren Drittels bis zu sechs Wochen. Bei einem weiteren Drittel der Tiere waren die Cannabinoide unwirksam.
12 Tage nach der Injektion der Tumorzellen in das Gehirn wurden THC oder WIN-55,212-2 sieben Tage lang kontinuierlich direkt an die Stelle injiziert, an der der Tumor ausgelöst worden war. Die THC-Gabe war bei drei Tieren unwirksam und verlängerte das Überleben von neun Ratten auf 19 bis 35 Tage. Der Tumor war bei drei mit THC behandelten Tieren vollständig verschwunden. Ebenso war das synthetische Cannabinoid unwirksam bei sechs Ratten, verlängerte das Überleben von vier Ratten auf 19 bis 43 Tage und vernichtete den Tumor bei fünf Tieren vollständig.
Das Team unter der Leitung von Professor Manuel Guzman von der Complutense Universität in Madrid sagte: „Diese Ergebnisse könnten die Basis für eine neue therapeutische Herangehensweise an die Behandlung maligner Gliome sein.“ Er erklärte, dass THC bei diesem Experiment in einer sehr geringen Dosis und in einem späten Stadium getestet worden sei, als die unbehandelten Ratten bereits kurz vor dem Tod standen. In einem Kommentar für Nature Medicine erklärte Professor Daniele Piomelli von der Universität von Kalifornien in Irvine, diese Befunde könnten von großer Bedeutung sein. Es sei dies die erste überzeugende Studie, die zeige, dass eine auf Cannabis basierende Behandlung Krebs bekämpfen könnte. Wenn die Substanz auch gut am Menschen funktioniere, sagte Piomelli, „dann wird dies ein Papier von großer Wichtigkeit.“ Es würden jedoch noch viele Tests an Tieren und Menschen notwendig sein, um seine Wirksamkeit nachzuweisen.
Beispiel 2: Cannabidiol hemmt das Tumorwachstum bei Brustkrebs im Tierversuch
Italienische Wissenschaftler untersuchten die tumorhemmenden Wirkungen von fünf natürlichen Cannabinoiden der Cannabispflanze (Cannabidiol, Cannabigerol, Cannabichromen, Cannabidiol-Säure und THC-Säure) bei Brustkrebs. Cannabidiol (CBD) war das wirksamste Cannabinoid bei der Hemmung von menschlichen Brustkrebszellen, die unter die Haut von Mäusen injiziert worden waren. CBD reduzierte auch die Lungenmetastasen, die aus menschlichen Brustkrebszellen in die Pfoten der Tiere injiziert worden waren.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die Anti-Tumorwirkungen des CBD durch die Auslösung des programmierten Zelltods von Krebszellen verursacht wurden. Die Zellen wurden also durch CBD angeregt, sich selbst umzubringen. Gesunde Zellen wurden überraschenderweise nicht beeinträchtigt.
Beispiel 3: THC reduziert beim Lungenkrebs das Wachstum und die Verbreitung in andere Organe
Auf einem Kongress der Amerikanischen Gesellschaft für Krebsforschung im Jahr 2007 wurde von Forschern der Harvard-Universität eine tierexperimentelle Studie vorgestellt, die zeigt, dass THC beim Lungenkrebs nützlich sein könnte. THC reduzierte bei Mäusen, die drei Wochen lang mit dem Cannabinoid behandelt worden waren, das Tumorwachstum bei Lungenkarzinomen um etwa 50 Prozent. „Die Schönheit dieser Studie besteht darin, dass wir zeigen, dass eine missbräuchlich verwendete Substanz, wenn sie klug verwendet wird, einen neuen Weg zur Behandlung des Lungenkrebses eröffnen könnte“, erklärte der Leiter der Studie.
[well]Hemmen Cannabinoide das Krebswachstum beim Menschen?[/well]
Wie oben erwähnt, wurde nahezu sämtliche Forschung zur Untersuchung der Frage, ob Cannabinoide Krebs behandeln können, im Labor durchgeführt. Es ist daher wichtig, sehr vorsichtig zu sein, wenn diese Ergebnisse auf Patienten übertragen werden. Diese sind wesentlich komplexer als eine Petrischale oder eine Maus. Es gibt Videos und Berichte im Internet, die argumentieren, dass Cannabis Krebs heilen kann. Diese anekdotischen Hinweise sind – zumindest bisher – extrem schwach und unklar.
- Wir wissen nicht, ob der (angenommene) Effekt von Cannabis auf einem Placebo-Effekt beruht.
- Wir wissen nicht, ob der Tumor aus natürlichen/endogenen Gründen nicht mehr weiter wächst – einige Tumoren verschwinden spontan aufgrund der Abwehrkräfte des Körpers gegen Tumoren.
- Wir wissen nicht, wie viele Patienten Cannabis eingenommen und keinen therapeutischen Nutzen erfahren haben. Wir kennen daher die Wirksamkeit von Medikamenten auf Cannabisbasis nicht.
- Da die meisten Patienten auch eine Standardtherapie gegen Krebs vor oder gleichzeitig mit der Cannabisverwendung erhalten haben, wissen wir nicht, ob die angenommene Cannabiswirkung – zumindest zum Teil – tatsächlich auf der Standardtherapie beruhte, vielleicht verstärkt durch Cannabis. Wir haben keine Beweise.
- Wir kennen nicht die Parameter des Tumorwachstums, die überwacht wurden, und wie lange der Patient überwacht wurde – viele potenziell nützliche Wirkungen von Medikamenten gegen Krebs (oder in diesem Fall von Cannabis) sind nur kurzzeitige Wirkungen. Was ist aber mit der langzeitigen Wirkung auf das Tumorwachstum und das Überleben der Patienten?
- Krebs ist eine sehr heterogene Erkrankung, und bisher hat niemand eine ausreichend große Zahl von Patienten mit einer bestimmten Krebsart zusammengefasst, um die Auffassung unterstützen zu können, dass Cannabinoide wirksame Medikamente bei dieser bestimmten Krebsart sind.
Zusammengefasst kann man sagen: Auch wenn es möglich ist, dass Cannabiszubereitungen eine tumorhemmende Wirkung bei einigen Krebspatienten gezeigt haben, so sind die gegenwärtigen anekdotischen Beweise extrem schwach, und sie sind leider weit von einer Unterstützung für die Annahme entfernt, dass Cannabinoide für Patienten wirksame Mittel gegen Krebs sind.
[well]Ergebnisse der klinischen Forschung[/well]
Bisher wurden nur Ergebnisse einer kleinen klinischen Studie veröffentlicht, die in einem Krankenhaus auf Teneriffa durchgeführt wurde. Darin erhielten neun Personen mit fortgeschrittenem Glioblastoma multiforme – ein aggressiver Hirntumor –, der zuvor nicht auf eine Standardtherapie angesprochen hatte, reines THC durch einen Katheter direkt in ihr Gehirn. Unter diesen Bedingungen konnte die THC-Gabe ohne relevante unerwünschte Wirkungen durchgeführt werden. Auch wenn bei dieser kleinen Gruppe von Patienten keine statistisch signifikanten Schlussfolgerungen gezogen werden können, so legen die Ergebnisse doch nahe, dass einige Patienten zumindest zum Teil auf die THC-Behandlung ansprachen. So wurde in Gewebeproben der Tumoren, die mit THC behandelt worden waren, ein verlangsamtes Tumorwachstum mit einer Zunahme zu Grunde gegangener Tumorzellen nachgewiesen. Diese Befunde wurden von den Wissenschaftlern, die die Studie begleiteten, als ermutigend betrachtet und verstärken das Interesse an einer möglichen Verwendung von Cannabinoiden in der Krebstherapie. Sie unterstreichen aber auch die Notwendigkeit für weitere Forschung, um die Verwendung von Cannabinoiden hinsichtlich der Auswahl geeigneter Patienten, der möglichen Kombination mit anderen krebshemmenden Mitteln und der Verwendung anderer Einnahmeformen zu optimieren.
[well]Zusammenfassung und Schlussfolgerung[/well]
Zusammenfassend gibt es weiterhin viele unbeantwortete Fragen zum Potenzial von Cannabinoiden als krebshemmende Mittel, und es ist notwendig und wünschenswert, dass weitere klinische Studien durchgeführt werden. Erst dann werden wir wissen, wie Cannabinoide verwendet werden können, um über ihre lindernden Wirkungen gegen Übelkeit, Appetitlosigkeit und Schmerzen hinaus Krebspatienten behandeln zu können.
Bis dahin werden noch viele Jahre vergehen, denn klinische Forschung ist immer mühsam und langwierig. In der Zwischenzeit werden wir mit einer gewissen Ungewissheit hinsichtlich dieser Frage leben müssen. Wir werden weiterhin von Heilungen von einzelnen Krebspatienten durch Cannabisprodukte lesen und hören. Leider sind die bisherigen Fälle schlecht dokumentiert, aber angesichts des in experimentellen Studien nachgewiesenen Potenzials erscheint es mir sehr wohl möglich, dass Cannabis bzw. einzelne Cannabinoide auch beim Menschen einen Nutzen in der ursächlichen Krebstherapie besitzen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Krebspatienten oder ihre Verwandten einen entsprechenden Versuch unternehmen. Der Ratschlag von Rick Simpson, zu Gunsten einer Verwendung von Haschischöl auf eine normale, häufig zu einer Heilung führenden Krebsbehandlung zu verzichten, ist allerdings unverantwortlich.
Von: Dr. Franjo Grotenhermen
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