Die Südwest Presse führte ein Interview mit Dr. Franjo Grotenhermen über das medizinische Potenzial von Cannabisprodukten.
„Ein vielfältig wirksames Arzneimittel“
Arzt und Patient sollten in Zukunft entscheiden dürfen, wann sie Cannabis einsetzen, um schwere Leiden zu lindern, sagt Dr. Franjo Grotenhermen. Er ist Vorsitzender des Arbeitskreises Cannabis als Medizin. Herr Dr. Grotenhermen, was weiß man heute über die Wirkung von Cannabis als Medizin?
GROTENHERMEN: Cannabis kann schmerzlindernd, muskelentspannend, entzündungshemmend und appetitsteigernd wirken. Allerdings gibt es nur für wenige Erkrankungen auch klinische Studien – etwa für Spasmen bei MS oder das Tourette-Syndrom. Im Gegensatz zu anderen Arzneien ist Cannabis aber so vielfältig wirksam, dass wir nicht erwarten können, in nächster Zeit für alle möglichen Indikationen klinische Studien zu bekommen.
Was folgt für Sie daraus?
GROTENHERMEN: Es muss reichen, wenn Patienten und Ärzte nachvollziehbar von einer deutlichen Linderung der Symptome berichten. Entweder die Patienten entdecken es selbst oder wir wissen es aus Ländern, in denen Cannabis regulär eingesetzt wird, wie in den Niederlanden, Israel und Kanada.
Bei welchen Krankheiten wird Cannabis hierzulande verwendet?
GROTENHERMEN: Es gibt in Deutschland etwa 500 Menschen, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Behandlung mit Cannabis beantragt und genehmigt bekommen haben, weil bei ihnen alle anderen Therapien versagt haben. Sie können sich Cannabis in der Apotheke holen. Behandelt werden 70 verschiedene Erkrankungen – Schmerzerkrankungen wie Migräne oder Rückenleiden, chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Rheuma, psychiatrische Erkrankungen wie Angststörungen oder ADHS. Aber auch Appetitlosigkeit oder Reizdarm.
Warum wirkt Cannabis so vielfältig?
GROTENHERMEN: Es enthält den Wirkstoff THC, der die Aktivität aller Neurotransmitter hemmt, also der Botenstoffe, welche die Erregung einer Nervenzelle auf andere Zellen übertragen. Das heißt: Da, wo zu viel Aktivität in Schmerzregelkreisen vorhanden ist, wird diese gehemmt. Da, wo zu viel Muskelanspannung besteht, wird sie verringert. Da, wo zu viel Aktivität von Botenstoffen existiert, die Übelkeit vermitteln, wird Aktivität gedämpft.
Zahlen die Krankenkassen die Kosten für das Cannabis-Medikament?
GROTENHERMEN: Nein, in der Regel nicht. Für die Patienten ist das eine enorme finanzielle Belastung – bis zu 1000 EURo im Monat.
Das Gesundheitsministerium plant für 2016, Cannabis für Schwerkranke zur Kassenleistung zu machen. Wie müsste die Regelung Ihrer Ansicht nach aussehen?
GROTENHERMEN: Ich vermute, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen dann überprüfen soll und wird, ob Cannabis als Arznei verwendet werden darf, weil kein anderes Medikament wirkt. Ich finde aber, das sollten Arzt und Patient entscheiden. Ich habe Patienten, denen helfen Opiate gegen ihre Schmerzen, aber auch Cannabis. Das geringere Abhängigkeitsrisiko liegt eindeutig bei Cannabis.
Sie meinen also: Warum dem Patienten ein Opiat verschreiben, wenn auch Cannabis wirkt?
GROTENHERMEN: Ja, wir müssen so schnell wie möglich dazu kommen, dass Cannabis ein Medikament wird wie jedes andere. Denn Nebenwirkungen und Suchtpotenzial sind nicht bedenklicher als das vieler anderer Arzneien. Vor allem aber: Es verbessert die Lebensqualität der Betroffenen erheblich – und das sollte Ziel jeder Therapie sein