Klinische Studien, die von der pharmazeutischen Industrie finanziert werden, haben nicht selten die Tendenz, die von den Unternehmen gewünschten Ergebnisse zu liefern. Klinische Studien sind teuer, und das investierte Geld soll nach der arzneimittelrechtlichen Zulassung des getesteten neuen Präparats wieder verdient werden. Warum sollte dies bei Studien, die von im Cannabisbereich aktiven Unternehmen gesponsert werden, anders sein?
Eine Beeinflussung von Studienergebnissen in der Cannabisforschung ist bisher vor allem aus Untersuchungen zu den möglichen Gefahren des Cannabiskonsums bekannt. Der größte Teil dieser Forschung wird weltweit vom US-amerikanischen Nationalen Institut für den Drogenmissbrauch (NIDA) finanziert. Wissenschaftler, die im Auftrag des NIDA arbeiten, laufen Gefahr, keine weiteren Aufträge vom NIDA zu erhalten, wenn sie in ihren Ergebnissen und Schlussfolgerungen nicht die Gefährlichkeit der Droge betonen. Die Wissenschaft ist leider nicht immer unabhängig von Interessen und Erwartungen der Auftraggeber. Ich möchte allerdings herausstellen, dass sich viele Wissenschaftler auch in der Cannabisforschung um eine möglichst neutrale Darstellung und objektive Interpretation ihrer Untersuchungsergebnisse bemühen. Nur auf diese Weise ist die Zunahme unseres Wissens um Gefahren und Nutzen von Cannabisprodukten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten möglich gewesen.
Die Beeinflussung von Studienergebnissen nach den Wünschen des Auftraggebers geschieht meistens eher unauffällig. Ich möchte dies an einem Beispiel aus der klinischen Forschung mit dem Cannabisextrakt Sativex des britischen Unternehmens GW Pharmaceuticals erläutern. Es handelt sich um eine Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit von Sativex und einem THC-Extrakt bei Schmerzen von Krebspatienten, die von dem Unternehmen finanziert worden war und im Herbst 2009 veröffentlicht wurde.
[well]Hintergrund: Cannabinoide bei Schmerzen[/well]
Vor zehn Jahren gab es nur wenige Daten aus klinischen Studien zum möglichen Nutzen von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen. Die bis dahin durchgeführten Studien waren überwiegend mit nur wenigen Patienten durchgeführt worden und hatten überwiegend eine Methodik verwendet, die heute als überholt gilt. Die heutige Kritik bezieht sich vor allem auf die früher übliche Methode, allen Patienten die gleiche Dosis zu verabreichen. Heute ist es hingegen Standard, dass für jeden Patienten eine individuelle Dosis ermittelt wird. Es wird einschleichend mit geringen Dosen begonnen, die langsam in Abhängigkeit von individueller Verträglichkeit und Wirksamkeit gesteigert werden. Bei festen Dosen traten nicht selten Überdosierungen mit nicht tolerierbaren Nebenwirkungen auf. Andererseits konnte die gleiche Dosis für einen anderen Patienten eine Unterdosierung und damit Wirkungslosigkeit bedeuten.
Viele der früheren Studien untersuchten zudem das schmerzlindernde Potenzial von Cannabinoiden bei akuten Schmerzen, entweder bei experimentell verursachten Schmerzen von Freiwilligen oder bei operativen Eingriffen (z. B. Zahnextraktion). Bei akuten Schmerzen können THC und andere Cannabinoide jedoch nicht selten die Schmerzen verstärken. Insgesamt genommen legten die klinischen Daten bis vor zehn Jahren nur ein begrenztes Potenzial von Cannabinoiden bei der Behandlung von Schmerzen nahe. Dies widersprach allerdings den persönlichen Erfahrungen vieler Schmerzpatienten, die sich erfolgreich mit Cannabis selbst therapierten.
[well]Der heutige Wissensstand[/well]
Dieses Bild hat sich in den letzten Jahren durch eine Anzahl klinischer Studien mit verschiedenen Cannabinoid-Präparaten (Dronabinol, Nabilon, Cannabisextrakte, inhalierter Cannabis), die analgetische Wirkungen bei verschiedenen chronischen Schmerzzuständen nachgewiesen haben, geändert. Heute weiß man zudem, dass sich die Daten aus Studien mit akuten Schmerzen nicht auf die Situation bei chronischen Schmerzen übertragen lassen. Das körpereigene Cannabinoidsystem reagiert bei akuten und chronischen Schmerzen unterschiedlich. So können beispielsweise Endocannabinoide, die im Rückenmark produziert werden, die Aktivität hemmender Nervenzellen hemmen und so den Schmerz verstärken. Diese schmerzfördernde Wirkung der Endocannabinoide verschwindet bei der Entwicklung chronischer Schmerzen (nach Entzündungen oder Verletzungen).
Klinische Studien haben im Allgemeinen einen signifikanten Nutzen von THC oder Cannabis bei chronischen Schmerzen unterschiedlicher Ursachen nachgewiesen. Gerauchter Cannabis reduzierte neuropathische Schmerzen von HIV-Patienten in drei verschiedenen klinischen Studien, die in den USA durchgeführt worden waren. So wurde beispielsweise in einer Studie an der Universität von Kalifornien eine mindestens 30-prozentige Schmerzreduzierung von 52 Prozent der Studienteilnehmer, die Cannabis erhalten hatten, angegeben, gegenüber nur 24 Prozent der Teilnehmer, die Plazebocannabis, also THC-freien Cannabis, erhalten hatten. Auch orales THC allein oder Cannabisextrakte, die vor allem THC und Cannabidiol (CBD) enthielten, war Placebopräparaten bei der Therapie chronischer Schmerzen von Multiple-Sklerose-Patienten oder Patienten mit unfallbedingten Nervenverletzungen signifikant überlegen.
In einigen Studien wurde eine zusätzliche Schmerzlinderung über die bereits mit starken Opiaten erzielte Schmerzlinderung hinaus erzielt. Viele Ärzte behaupten leider, dass keine weiteren Schmerzmittel benötigt würden, da ausreichend Schmerzmittel, und insbesondere Opiate, verfügbar seien, um alle Schmerzerkrankungen in den Griff zu bekommen. Dagegen führte THC in einer Studie aus dem Jahr 2008 mit 30 chronischen Schmerzenpatienten, die stabile Opiatdosen einnahmen, zu einer zusätzlichen Schmerzlinderung. Diese Studie war mit Patienten durchgeführt worden, die trotz der Einnahme starker Opiate an Schmerzen litten.
[well]Die Rolle von Cannabidiol[/well]
Erfahrungen von Schmerzpatienten wurden im Allgemeinen mit Cannabispräparaten gemacht, die hohe Konzentrationen an THC (Dronabinol) und nur geringe Konzentrationen anderer Cannabinoide aufwiesen, weil Cannabissorten, die auf dem illegalen Markt verfügbar sind, vor allem mit dem Ziel einer Steigerung des Dronabinolgehaltes gezüchtet wurden. Sie enthalten meistens sehr geringe Mengen anderer Cannabinoide, inklusive Cannabidiol (CBD), Cannabigerol (CBG), Cannabichromen (CBC) und Cannabinol (CBN).
Die Einführung von CBD in die Therapie geschah in den vergangenen Jahren im Wesentlichen durch den Einsatz von Cannabisextrakten in der klinischen Forschung. Allerdings wird eine Anzahl von Patienten durchaus – im Allgemeinen unwissentlich – Erfahrungen mit den Wirkungen von CBD gemacht haben, da einige wenige Cannabissorten – und insbesondere Cannabisharz (Haschisch) – hohe CBD-Konzentrationen enthalten können.
Zurzeit befinden sich zwei Cannabisextrakte – Cannador® und Sativex® – in der klinischen Forschung, oder sind bereits in einigen Ländern auf Rezept erhältlich, die beide vergleichsweise hohe CBD-Konzentrationen enthalten. Cannador vom Institut für klinische Forschung in Berlin enthält Dronabinol und andere Cannabinoide (überwiegend CBD) in einem Verhältnis von etwa 2 zu 1 und wird in einer Kapsel verabreicht (orale Verwendung). Die erste klinische Studie mit Cannador wurde 2002 veröffentlicht. Eine große Langzeitstudie von 12-monatiger Dauer, die von 502 Patienten mit multipler Sklerose abgeschlossen wurde, fand eine signifikante Wirkung auf die von den Patienten beschriebene Symptomstärke von Schmerzen, Spastik und Schlaf durch Cannador und THC. Reines THC war Cannador allerdings bei einem objektiven Messwert der Spastik überlegen. Sativex des britischen Unternehmens GW Pharmaceuticals enthält Dronabinol und Cannabidiol in einem Verhältnis von etwa 1 zu 1 und wird als ein Spray in den Mund verabreicht (oromukosale Verwendung). Sativex wurde in vielen klinischen Studien getestet, und es wurden signifikante Verbesserungen bei der Muskelspastik und anderen neurologischen Symptomen bei multipler Sklerose und bei nicht anderweitig behandelbaren chronischen Schmerzen unterschiedlicher Ursachen nachgewiesen.
[well]Die aktuelle Studie[/well]
In der kürzlich veröffentlichten Studie wurde die Wirksamkeit von Sativex und einem THC-Extrakt, der außer THC kaum andere Cannabinoide enthielt, mit einem Placebo bei der Linderung von Schmerzen von Krebspatienten verglichen. In die Studie konnten Patienten aufgenommen werden, die an beiden Tagen einer zweitägigen Eingangsphase auf einer Schmerzskala von 0 bis 10 (keine Schmerzen bis sehr starke Schmerzen) eine Schmerzstärke von 4 angaben, obwohl sie seit mindestens einer Woche starke Opiate einnahmen. Die Teilnehmer behielten diese Opiatmedikation während der gesamten zweiwöchigen Studiendauer bei. Insgesamt wurden 177 Patienten mit Krebsschmerzen in die Studie aufgenommen. Sie erhielten nach einem Zufallsprinzip entweder den THC-Extrakt, Sativex oder das Placebo. In der ersten Studienwoche ermittelten sie durch eine langsame Dosissteigerung ihre optimale Dosierung.
Der primäre Endpunkt der Studie, also der wichtigste Faktor für den Erfolg der Studie, war die Veränderung der Schmerzen nach der Schmerzskala (NRS). Die sekundären Endpunkte, d. h., die zusätzlich untersuchten Symptome, umfassten unter anderem die Schlafqualität, den Appetit und den Gesamtschmerz nach einem bekannten Fragebogen zur Erfassung von Schmerzen, dem BPI-SF. Dieser Schmerzwert stellt die Summe von Schmerzwerten aus vier Fragen dar, die sich auf die „stärksten Schmerzen innerhalb der letzten 24 Stunden“, die „geringsten Schmerzen innerhalb der letzten 24 Stunden“, die „durchschnittlichen Schmerzen“ und die „Schmerzen, die Sie gerade haben“, beziehen.
Der Cannabisextrakt und der THC-Extrakt führten zu einer signifikanten Reduzierung der Schmerzen nach jeweils einem der beiden Schmerzmesswerte, jedoch nicht beide nach dem gleichen Messwert. Für den Cannabisextrakt ergab sich eine statistisch signifikante Veränderung gegenüber dem Placebo auf der Schmerzskala NRS, während der THC-Extrakt nur zu einer durchschnittlich nicht signifikanten Verbesserung führte. Demgegenüber ergab sich für den THC-Extrakt eine statistisch signifikante Verbesserung des Gesamtschmerzes nach dem BPI-FS gegenüber dem Placebo, während die Verbesserung für den Cannabisextrakt nicht signifikant war.
[well]Eine kleine Manipulation[/well]
Auf Grund der Veränderung der Schmerzskala NRS schlossen die Autoren, dass das „THC:CBD-Extrakt wirksam bei der Linderung von Schmerzen mit fortgeschrittenen Krebsschmerzen ist“. Das zweite Ergebnis wurde in der Zusammenfassung der Studie und im Ergebnisteil des Artikels allerdings nicht einmal erwähnt, sondern nur in einer Tabelle mit anderen Ergebnissen aufgelistet und mit einem Satz im Diskussionsteil angeführt, was beides leicht übersehen werden kann, wenn man den Bericht über die Studie nicht sehr genau durchliest. Auf diese Weise erscheint es so, als habe nur Sativex die Schmerzen der Patienten gelindert und THC allein sei unwirksam gewesen. Es scheint jedoch eher zuzutreffen, dass Sativex und THC unterschiedliche Aspekte der Schmerzen beeinflusst hatten.
Die Rolle hoher CBD-Konzentrationen in bestimmten Cannabiszubereitungen wie Sativex ist bisher unklar, mit gemischten Ergebnissen im Vergleich mit alleinigem THC oder THC-reichem Cannabis und geringen Mengen anderer Cannabinoide. Möglicherweise ist es so, dass CBD-reicher Cannabis alleinigem THC bei einigen Symptomen überlegen ist, während es bei anderen Symptomen umgekehrt ist.
Von: Dr. med. Franjo Grotenhermen
Ausgabe/Ressort: Archiv, Medizin, 10-02