von Dr. Franjo Grotenhermen
Im Internet kursieren seit der Verabschiedung des Gesetzes Interpretationen und Fragen zum Gesetz, die zum Teil nicht immer zur Klarheit beitragen.
Bei welchen Erkrankungen dürfen Cannabis und Cannabis-basierte Medikamente verschrieben werden?
Weit verbreitet ist die Aussage, dass nicht klar sei, bei welchen Erkrankungen Cannabisprodukte nun vom Arzt verschrieben werden dürfen und bei welchen Erkrankungen die Kosten einer Therapie von den Krankenkassen übernommen werden müssen. Schließlich sei in den Diskussionen immer wieder von Schwerkranken wie Schmerzpatienten, Krebspatienten und Patienten mit neurologischen Erkrankungen die Rede gewesen, nicht jedoch beispielsweise von Tinnitus, Schlafstörungen oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).
Cannabisprodukte dürfen vom Arzt nach dem neuen Gesetz, das voraussichtlich am 1. März in Kraft treten wird, bei jeder Erkrankung verschrieben werden.
Der Vorstellung, bestimmte vermeintlich nicht so schwere Erkrankungen könnten vom Gesetz ausgenommen, liegt die irrige Ansicht medizinischer Laien zu Grunde, Tinnitus oder Schlafstörungen seien möglicherweise grundsätzlich keine schwerwiegenden Erkrankungen. Es geht hier aber nicht um Diagnosen, sondern um schwere Erkrankungen. Ein Tinnitus mit einer Stärke von 60 dB ist eine sehr schwere Erkrankung, die die Patienten nicht selten in den Selbstmord treibt. Viele Patienten mit Tinnitus leiden aber nicht an einer schweren Erkrankung. Das gleiche gilt für Schlafstörungen. Schlafstörungen können äußerst massiv sein, sogar zum Tode führen. Ich habe einen Patienten, der ohne Cannabis nur 2-3 Stunden pro Nacht schlafen kann und durch die Verwendung von Cannabis eine Verdoppelung der Schlafdauer und eine Verbesserung der Schlafqualität erzielen konnte. Dies wurde im Schlaflabor durch eine Untersuchung ohne und eine Untersuchung mit Cannabis nachgewiesen. Die meisten Schlafstörungen stellen jedoch keine schweren Erkrankungen dar. Das gilt aber auch für die meisten Schmerzen oder Entzündungen.
Ob eine Erkrankung eine schwere Erkrankung ist, hat häufig nichts mit der Diagnose zu tun.
Auf der anderen Seite wird im Internet gelegentlich über kalifornische Verhältnisse frohlockt, weil der deutsche Gesetzgeber sinnvollerweise und auch notwendigerweise darauf verzichtet hat, eine Liste von Erkrankungen zu erstellen, bei denen Cannabisprodukte oder Cannabis-basierte Medikamente verschrieben werden dürfen, um damit gleichzeitig andere Patienten von einer möglichen wirksamen Therapie auszuschließen. Denn einerseits braucht jemand mit chronischen Schmerzen nicht unbedingt eine Therapie mit Cannabis, während andererseits ein Patient mit einer hinsichtlich Cannabis bisher unerforschten Erkrankung, wie beispielsweise Hyperhidrosis (vermehrtes Schwitzen) oder Akne inversa, dringend eine Therapie benötigt, um seine Erkrankung zu lindern. Auch in den Niederlanden dürfen Ärzte Cannabis bei jeder Indikation verschreiben. Sie halten sich aber zurück. Und auch in Deutschland kann ich nicht erkennen, dass Ärztinnen und Ärzte zukünftig nicht weiterhin sorgfältig mit der Abwägung von Nutzen und möglicher Risiken einer Therapie mit Cannabisprodukten im Einzelfall umgehen. Auch Dronabinol kann bereits seit 1998 bei jeder Indikation eingesetzt werden, wird es aber nicht. Das gleiche gilt für Sativex seit 2011.
Dürfen Patienten, die Cannabisblüten aus medizinischen Gründen einnehmen, am Straßenverkehr teilnehmen?
Ein weiteres Thema, das verunsichert, ist das Thema medizinische Verwendung von Cannabisprodukten und Fahrtüchtigkeit bzw. Fahreignung. Cannabisblüten konnten bisher nur mit einer Ausnahmeerlaubnis verwendet werden, wurden also vom Arzt nicht verschrieben, sodass bei einer formalen Anwendung des Wortlautes des Gesetzes (siehe unten) der Schluss gezogen werden konnte, dass diese Patienten gegen das Straßenverkehrsgesetz verstoßen, wenn sie Cannabis im Rahmen einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie medizinisch verwendeten. Cannabisblüten werden nun verschreibungsfähig, sodass kein Verstoß gegen das Straßenverkehrsgesetz mehr vorliegt.
Dies hat auch Auswirkungen auf die Beurteilung der Fahreignung nach der Fahrerlaubnisverordnung.
Die Teilnahme am Straßenverkehr und die Verwendung illegaler Betäubungsmittel schließen sich aus – wie das Fahren unter Alkoholeinfluss. Das ist dem § 24a des Straßenverkehrsgesetzes und der Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung zu entnehmen. Anders sieht die Rechtslage aus, wenn man ein Betäubungsmittel als Patient im Zusammenhang mit einer entsprechenden Erkrankung einnehmen muss, also aus medizinisch-therapeutischen Gründen. Hier ist das Fahren grundsätzlich zulässig. So heißt es im § 24a, Satz 2, des Straßenverkehrsgesetzes: „Ordnungswidrig handelt, wer unter der Wirkung eines in der Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt. Eine solche Wirkung liegt vor, wenn eine in dieser Anlage genannte Substanz im Blut nachgewiesen wird. Satz 1 gilt nicht, wenn die Substanz aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt.“
Analog unterscheidet auch die Fahrerlaubnisverordnung zwischen der illegalen Verwendung von Drogen und der Einnahme von Arzneimitteln. So heißt es in einem Merkblatt des Bundesverkehrsministeriums: „Während der illegale Konsum von Betäubungsmitteln (außer Cannabis) die Fahreignung nach Anlage 4 Nr. 9.1 FeV ausschließt, führt die Einnahme von Medikamenten nur dann zum Ausschluss der Fahreignung, wenn es zu einer Beeinträchtigung des Leistungsvermögens unter das erforderliche Maß kommt (Anlage 4 Nr. 9.6.2 FeV)“. Voraussetzung ist dafür allerdings, dass der Patient sich in einem stabilen, gut eingestellten Zustand befindet und die Einnahme des betreffenden BtM seinen Allgemeinzustand nicht wesentlich negativ beeinflusst – und dass sich der Patient vor Fahrtantritt kritisch hinterfragt.
In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass das Straßenverkehrsgesetz 1997 geändert wurde. Ich war damals als Gutachter beteiligt und kann mich noch gut erinnern. Alle Gutachter und die beteiligten Fachpolitiker waren sich bei der Anhörung im Verkehrsausschuss einig, dass eine medizinische Verwendung von Medikamenten, seien es nun Opiate oder Cannabinoide, nicht die Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen sollten.
Am 24. Oktober 2013 fand in der Bundesanstalt für Straßenwesen ein Expertentreffen zu Grenzwerten von THC im Blut statt. Die Teilnehmer waren vor allem Rechtsmediziner und Toxikologen von deutschen Universitäten, einige auch aus Norwegen und den Niederlanden. Im Rahmen dieser Veranstaltung hatte ich die Möglichkeit erhalten, über den Umgang der deutschen Führerscheinbehörden mit der medizinischen Verwendung von Cannabis und Cannabinoiden im Zusammenhang mit der Teilnahme der Patienten am Straßenverkehr zu referieren. Alle Teilnehmer waren sich einig, dass die Verwendung von Cannabis zu medizinischen Zwecken nicht die Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen darf. Ein ausführlicher Bericht über die Veranstaltung und meinen Vortrag findet sich hier.
Die rechtliche Situation ist damit klar. Das bedeutet aber nicht, dass das Gesetz nicht möglicherweise so gedehnt wird, dass Patienten, die Cannabis und Cannabis-basierte Medikamente verschrieben bekommen haben, nicht doch bei einer Anzahl von Führerscheinstellen und Begutachtungsstellen eine Ungleichbehandlung mit einer Benachteiligung gegenüber Patienten, die andere verschriebene Medikamente einnehmen, erfahren.