Von Dr. med. Franjo Grotenhermen
Cannabis wird seit mehreren tausend Jahren in Asien kultiviert. Seit langer Zeit werden Kleidung, Stoffe und Seile aus der vielseitig verwendbaren Faser gefertigt, und die Hanfsamen sind Bestandteil der Ernährung. Auch die Drogeninhaltsstoffe wurden seit vorchristlicher Zeit in vielen Kulturen bei religiösen Riten und Heilungszeremonien genutzt. Die Hanfpflanze wurde in den Veden (Indien, 1500 bis 1300 vor Christus), aber auch im Buch Chu-tzu (China, circa 300 vor Christus) als heilig bezeichnet. Vor allem in Zentralasien waren bereits einige der heute wieder entdeckten medizinischen Eigenschaften der Cannabispflanze bekannt, wie sein überlieferter Einsatz bei einigen neurologischen Erkrankungen beweist.
Im 17. Jahrhundert lernten Europäer, die die arabischen Länder und Asien bereisten, Cannabis mit einem hohen THC-Gehalt (“indischer Hanf”) kennen. Allerdings fand dieser Hanf vor dem 19. Jahrhundert keine breite medizinische Verwendung in Europa und Amerika.
Im Jahre 1830 wurde die medizinische Verwendung des indischen Hanfes erstmals detailliert in Europa durch Theodor Friedrich Ludwig Nees von Esenbeck, Professor für Pharmazie und Botanik in Bonn, beschrieben. Der wichtigste Pionier für die moderne medikamentöse Verwendung der Hanfpflanze in Westeuropa war allerdings der schottische Arzt, Wissenschaftler und Ingenieur Sir William Brooke O’Shaughnessy, der 1839 eine Zusammenfassung seiner Erfahrungen mit der medizinischen Verwendung von Cannabis während seines Aufenthaltes in Indien publizierte, die große Beachtung fand. Zunächst berichtete er über die volkstümliche und medizinische Verwendung der Pflanze in Indien und führte darüber hinaus Studien mit Tieren und Menschen durch. Er berichtete über die Verwendung von Cannabis-Tinkturen bei Rheuma, Tetanus, Tollwut, kindlichen Krämpfen und Delirium tremens. Er beschrieb den großen Appetit und die Heiterkeit seiner Patienten nach der Einnahme der Droge.
Angeregt durch die Berichte O’Shaughnessys entwickelte sich Cannabis in Europa und Amerika bald zu einem akzeptierten Medikament und viele Ärzte berichteten von erfolgreichen Behandlungen bei einer Vielzahl von Erkrankungen, darunter chronische Schmerzen verschiedener Ursachen, Gelenkentzündungen, Migräne, Muskelkrämpfen, Appetitlosigkeit, Magenschmerzen, Asthma, Schlaflosigkeit, Förderung der Wehentätigkeit, Gebärmuttersblutungen, Menstruationsbeschwerden, Abhängigkeit von Opiaten und Chloralhydrat und Depressionen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Cannabisprodukte in Europa und Amerika etablierte medizinische Mittel. Es gab Fertigpräparate von den pharmazeutischen Unternehmen Merck in Deutschland, Bourroughs, Wellcome & Co. in Großbritannien und Squibb, Parke, Davis & Co und Eli Lilly & Co in den USA. Es gab erhebliche Bemühungen, den Wirkstoff von Cannabis zu identifizieren. Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man einen “schwachgelben Sirup” von der Zusammensetzung C21H30O2,, der Cannabinol genannt wurde, identifizieren. Es handelte sich um THC, dessen genaue chemische Struktur jedoch erst 1964 ermittelt werden konnte.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch widerstreitende Aspekte gekennzeichnet. Die Diskreditierung von Cannabis als Rausch- und Genussmittel führte auch zur Diskreditierung des Einsatzes von Cannabis zu medizinischen Zwecken. Zudem trug die forcierte Entwicklung synthetischer Medikamente – darunter Aspirin, Chloralhydrat, Barbiturate und Opiate – zur Verdrängung von nicht standardisierten Naturprodukten bei.
In den 1940er Jahren wurde THC, dessen exakte Struktur noch nicht bekannt war, erstmals in der Therapie eingesetzt. So berichtete Samuel Allentuck aus den USA Anfang der vierziger Jahre über die erfolgreiche Behandlung von Entzugserscheinungen bei Opiatabhängigkeit mit THC. In den vierziger Jahren wurden auch die ersten synthetischen Cannabinoide hergestellt und in klinischen Studien getestet, darunter der synthetische THC-Abkömmling Pyrahexyl (Synhexyl).
Das Interesse an der Cannabisforschung erwachte erneut mit der exakten Identifizierung der chemischen Struktur des THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol) im Jahre 1964 durch die israelischen Wissenschaftler Yechiel Gaoni und Raphael Mechoulam. Nunmehr setzte ein verstärktes Interesse an der Erforschung der Chemie, der Verstoffwechselung und der möglichen schädlichen und nützlichen Wirkungen von Cannabis und einzelner Cannabinoide ein. Ein zweiter Boom folgte Anfang der 1990er Jahre nach der Entdeckung des körpereigenen Endocannabinoidsystems mit seinen körpereigenen Cannabinoiden, den Endocannabinoiden, und ihren Bindungsstellen, den Cannabinoidrezeptoren.