Die Deutsche Apotheker Zeitung ging der Frage nach, ob Cannabisblüten real oder nur gefühlt teurer sind als Dronabinol und ließ die Krankenkassen sowie Dr. Grotenhermen mit kontroversen Stellungnahmen zu Wort kommen.
Sind Cannabisblüten tatsächlich oder „gefühlt“ zu teuer?
Als „unverhältnismäßig teuer“ bezeichnete die Barmer Cannabisblüten vor wenigen Tagen in einer Stellungnahme. Doch sind die Blüten wirklich kostspieliger als andere Cannabis-Präparate und auf welcher Grundlage basiert dieser Vergleich? DAZ.online befragte dazu Kassen, Hersteller, Importeure und den Cannabisexperten Dr. Franjo Grotenhermen.
Die Therapie mit Cannabis-Blüten „gilt“ als teuer. Apotheker müssen sich teilweise für ihre Rezepturaufschläge, die auch auf politischer Ebene diskutiert werden, rechtfertigen. Ärzte befürchten Regresse. Doch woher kommt diese Wahrnehmung? Die Krankenkassen scheinen sich sicher zu sein, dass die Blüten im Vergleich zu anderen Cannabis-Präparaten – insbesondere Dronabinol – zu teuer seien und kommunizieren dies konsequent und einstimmig an Fachkreise.
Krankenkassen sind sich einig
So hat zu Beginn dieser Woche die Barmer Ersatzkasse anlässlich ihrer aktuellen Auswertung Cannabisblüten als „unverhältnismäßig teuer“ beschrieben. Vom Einsatz sei abzusehen, da es andere Cannabis-Präparate gebe, so Dr. Ursula Marshall, leitende Medizinerin der Barmer. Im Mai, bei der Präsentation des Cannabis-Reports der Techniker Krankenkasse (TK), erklärte Vorstandsvorsitzender Dr. Jens Baas, dass die Blüten- im Vergleich zur Dronabinoltherapie mit 400 Prozent Mehrkosten verbunden sei.
Und diese Auffassung vertreten die Kostenträger nicht erst seit Kurzem. So versandte die AOK kurz nach Inkrafttreten des sogenannten Cannabisgesetzes vom 10.März 2017 eine Verordnungshilfe an Ärzte, die den allgemeinen Hinweis enthält: „Die Verordnungen von Rezepturen wie z.B. Blüten, Extrakte, können im Vergleich zu Fertigarzneimitteln Mehrkosten verursachen.“ Der Medizinische Dienst des GKV-Spitzenverbandes (MDS) schreibt in einer Begutachtungsanleitung für Krankenkassen im Kapitel „Wirtschaftlichkeitsaspekt“, dass „Cannabisblüten im Regelfall teurer seien als Dronabinol“.
Dronabinol und Blüten sind unterschiedliche Medikamente
Streng genommen lassen sich Blüten- und Dronabinolrezepturen nicht vergleichen. Denn bei Dronabinol handelt es sich um den reinen Cannabis-Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC), der von Bionorica ethics als Rezepturausgangssubstanz angeboten wird. Cannabisblüten dagegen sind ein Vielstoffgemisch aus mehr als 100 Cannabinoiden und rund 500 weiteren Inhaltsstoffen, die zur arzneilichen Wirkung beitragen. Es handelt sich folglich sowohl pharmazeutisch als auch klinisch um unterschiedliche Therapien.
Modellrechnung anhand des THC-Gehaltes
Um die beiden dennoch vergleichen zu können, bietet sich laut Dr. Franjo Grotenhermen der THC-Gehalt als gemeinsamer Nenner an. Dieser rangiert bei den Blütensorten zwischen 1 und 26 Prozent. Ein Kostenvergleich hängt demnach von der Blütensorte ab. „Meistens werden Blüten mit THC-Konzentrationen zwischen 14 und 24 Prozent verschrieben. Es gibt auch Sorten mit deutlich geringeren THC-Konzentrationen (z.B. Bediol mit etwa 6 Prozent Dronabinol). Eine mittlere THC-Konzentration ist 20 Prozent“, erklärt der Mediziner, der Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Cannabismedizin (ACM), Fachautor mehrerer Bücher über Medizinalhanf und internationaler Experte für Cannabinoide, ist, gegenüber DAZ.online.
Der Einfachheit halber wird in den folgenden Beispielrechnung von Blüten mit einem mittleren THC-Gehalt von 20 Prozent ausgegangen und diese mit einer häufig verschriebenen 2,5-prozentigen öligen Dronabinollösung als Rezeptur verglichen. Als THC-Zielmenge wurde exemplarisch 1000 Milligramm gewählt. Hierfür würden 5 Gramm Cannabisblüten beziehungsweise 40 Milliliter Dronabinollösung benötigt.
Die Apothekeneinkaufspreise für die Blüten schwanken je nach Importeur – so geben Cannamedical etwa 10 EURo pro Gramm, Spektrum Cannabis 45 EURo für eine 5 Gramm-Einheit auf Nachfrage von DAZ.online an. Dazu muss der Rezepturzuschlag addiert werden, über den GKV-Spitzenverband und der Deutschen Apothekerverband blieben bislang ohne Ergebnis verhandelt haben und der daher bis auf weiteres 90 Prozent beträgt. Folglich ergibt sich ein Verkaufspreis von knapp 100 EURo.
Bionorica ethics verlangt nach eigenen Angaben für 1000 Milligramm Wirkstoff 340 EURo. Hinzu kommt der Aufwand für die Rezepturherstellung und das benötigte Zubehör. Damit können Kosten für die entsprechende Dronabinolrezeptur entstehen, die etwa dem acht- bis zehnfachen entsprechen, was die Blüten kosten würden. Runtergebrochen auf den THC-Gehalt lässt sich rein rechnerisch die Sichtweise der Kostenträger nicht nachvollziehen.
AOK verweist auf unzureichende Evidenz
DAZ.online hat bei den Kassen nachgefragt, auf welcher Grundlage die Aussage, Cannabisblüten seien teurer als Dronabinol, beruhen.
„Dabei handelt es sich um eine allgemeine Aussage, die nicht auf jeden Einzelfall zutrifft. Natürlich gibt es immer Fälle, wo das Kostenverhältnis anders ist. Die AOK übernimmt entsprechend der gesetzlichen Vorgaben selbstverständlich die Kosten für medizinisches Cannabis“, erklärt der AOK-Bundesverband (AOK-BV) gegenüber DAZ.online.
Für den AOK-BV scheint neben der Wahl des Cannabis-Präparates die Patientenauswahl sowie deren -anzahl eine noch größere Rolle zu spielen. „Unser Anliegen ist vor allem, dass es bislang nicht genügend Evidenz gibt, welchen Patienten Cannabis überhaupt hilft oder wem es sogar schadet. Die Studienlage dazu muss dringend verbessert werden. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Anträge längst nicht mehr nur von schwerstkranken Patienten gestellt werden.“
TK vergleicht die Höchstmengen nach BtMVV
Die Techniker Krankenkasse begründet ihre Aussage mit einem konkreten Rechenbeispiel. Im Gegensatz zu der obigen Modellrechnung vergleicht die TK die Therapiekosten anhand der jeweiligen – stark heterogenen – Höchstmengen, die laut Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) für 30 Tage ohne „A“-Kennzeichnung rezeptierbar sind. Diese betragen für Dronabinol 500 Milligramm, die nach Berechnungen der Kasse als Rezeptur 440 EURo kosten würden. Laut BtMVV beträgt die Höchstmenge für Cannabisblüten 100 Gramm, die einen Kostenpunkt von 2170 EURo hätten.
Legt man wieder die Cannabisblütensorte mit 20 Prozent THC-Gehalt zugrunde, würden diese 20 Gramm THC enthalten – folglich 40-mal so viel wie 500 Milligramm Dronabinol. Aus klinischer Sicht ergibt dieser Kostenvergleich also wenig Sinn. An dieser Stelle ist außerdem anzumerken, dass es sich bei den Höchstmengen nicht um Dosierempfehlungen handelt.
GKV-SV: unterschiedliche Bioverfügbarkeit
Auch der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) begründet seine Aussage mit einem Rechenbeispiel. Dieses baut der Kassenverband unter anderem auf maximalen Tagesdosen auf, die er wie folgt definiert: Für Cannabisblüten seien dies 3 Gramm pro Tag zum Preis von 69 EURo beziehungsweise 30 Milligramm Dronabinol zum Preis von 29 EURo. Der Preisunterscheid in dem GKV-SV-Rechenbeispiel ist nicht so groß wie bei dem der TK. Jedoch – legt man wieder eine Blütensorte mit einem mittleren THC-Gehalt von 20 Prozent zugrunde, unterscheidet sich der THC-Gehalt der beiden vom GKV-SV gewählten Tagestherapien um den Faktor 20.
Der Kassenverband verweist zudem darauf, dass die Bioverfügbarkeit von THC nach Inhalation von Cannabisblüten etwa 2,5 bis sechsfach höher sei als nach oraler Anwendung von Dronabinol. Dies stellen allerdings nur Richtwerte dar, weil die Bioverfügbarkeit beim Inhalieren individuell unterschiedlich ist und unter anderem von der Inhalationstiefe abhängt. Die pharmakokinetischen Aspekte spielen für die Wirksamkeit eine wichtige Rolle, erklären jedoch nicht, weshalb Blüten- und Dronabinolmengen verglichen wurden, die sich im THC-Gehalt um den Faktor 20 unterscheiden.
Die Barmer Ersatzkasse äußerte sich zu dem Thema auf Nachfrage von DAZ.online nicht.
„Altpatienten“ sind größere Mengen gewöhnt
Die Berechnungen sind also nicht trivial. Dafür, dass die Blütentherapie als teuer empfunden wird, gibt es laut Grotenhermen noch einen praktischen Grund. Und zwar kamen die Therapieanträge in der ersten Zeit nach der Gesetzesänderung vorwiegend von Patienten, die zuvor eine Cannabistherapie aufgrund einer Ausnahmegenehmigung vom BfArM erhielten. „Unter den Erlaubnisinhabern waren aus meiner Praxis überwiegend Patienten, die sich bereits viele Jahre vorher illegal selbst behandelt haben und nun die Chance hatten, aus der Illegalität herauszukommen und damit nicht nur ihre gesundheitliche, sondern auch ihre soziale und berufliche Situation zu verbessern“, erklärt Grotenhermen.
Ohne ärztliche Kontrolle neigen die Betroffenen dazu, die Dosis sukzessive zu erhöhen, so der Mediziner. Dabei spiele zum einen die Toleranzentwicklung, wie sie auch bei Opioiden und Benzodiazepinen bekannt sei, eine Rolle. Zum anderen kann auch die Veränderung der Symptomatik dazu beitragen. „Wenn die Schmerzen an einigen Tagen stärker als üblich sind, nehmen viele Patienten sinnvollerweise höhere Dosen ein, reduzieren diese aber nicht wieder, wenn das Schmerzniveau wieder abgesunken ist. So werden aus einer Tagesdosis von 0,1 g im Laufe der Jahre 3 g. Diese Dosiserhöhung impliziert auch höhere Behandlungskosten“, so der Mediziner, der von seinen Patienten die Anschaffung einer Feinwaage mit einer Genauigkeit von 10 Milligramm verlangt.
Vorsichtige Dosistitration
Bei neuen Patienten führt Grotenhermen eine sehr konservative Dosistitration durch: „Bei einem THC-Gehalt von 20 Prozent empfehle ich, mit einer Tagesdosis von 20 mg (manchmal auch 10 mg), aufgeteilt in 3 Gaben zu beginnen und dann täglich um 10 mg zu steigern.“ Die finalen Tagesdosen seiner neuen Patienten bewegen sich häufig zwischen 50 bis 200 Milligramm Blüten, was bei einem THC-Gehalt von 20 Prozent zwischen 10 bis 40 Milligramm Dronabinol und Monatsdosen zwischen 1,5 und 6 Gramm entspricht. Daraus ergeben sich monatliche Behandlungskosten zwischen 30 und 120 EURo – eine völlig andere Größenordnung als in der Wahrnehmung der Kassen.
„Häufig verzichten diese Patienten auf den aufwendigen Prozess der Beantragung einer Kostenübernahme, sodass die Krankenkassen solche Patienten nicht im Blick haben und auch nicht haben können“, erläutert der Mediziner. Und nicht selten wird der Wirtschaftlichkeitsaspekt als Ablehnungsgrund von den Kassen angegeben, weiß Grotenhermen, der als Privatmediziner bereits mehrere Patienten und ihre behandelnden Ärzte durch ergänzende Befundberichte vor dem Sozialgericht unterstützt.