Auch wird offenbar die Definition der “schwerwiegenden Erkrankung” von den Kassen gerne zu Ungunsten der Patienten ausgelegt. So wird meines Wissens das Restless-Legs-Syndrom nicht als schwerwiegende Erkrankung anerkannt. Nicht nur Betroffene wissen, dass hier sehr wohl “eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die aufgrund der chronischen Erkrankung verursachte Gesundheitsstörung zu erwarten ist”.
Antwort: Der Begriff der „schwerwiegenden Erkrankung“ ist durch den Gesetzgeber nicht definiert. Er wird allerdings in verschiedenen Regelungen verwendet und ist daher ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung von den Gerichten voll überprüfbar ist.
Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich, dass der Bezugsrahmen für den im § 31 Abs 6 SGB V verwendete Begriff der „schwerwiegenden Erkrankung“ § 62 SGB V ist. Im Referentenentwurf für das „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ des Bundesministeriums für Gesundheit mit Bearbeitungsstand vom 7.1.2016 16:11 Uhr heißt es in Artikel 4:
„Versicherte mit einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung (§ 62 Abs 1 Satz 8) haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten…“
Eine schwerwiegende chronische Krankheit liegt nach § 2 Abs. 2 der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Definition schwerwiegender chronischer Krankheiten im Sinne des § 62 SGB V“ vor, „ […] wenn sie wenigstens ein Jahr lang, mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung) und eines der folgenden Merkmale vorhanden ist […] b) es liegt ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 60 vor)[…] nach den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG oder 65 Abs. 2 SGB VII festgestellt und zumindest auch durch die Krankheit nach S. 1 begründet sein muss.“
Hierzu ist anzumerken, dass der Gesetzgeber diese zunächst vorgesehene Regelung in § 31 Abs. 6 SGB V nicht weiter verfolgte, da den Betroffen nicht zugemutet werden sollte, mindestens ein Jahr abzuwarten, bis die entsprechende Medikation indiziert sei.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Begriff schwerwiegende Erkrankung im Kontext des, in vielerlei Hinsicht speziellen, § 31 Abs. 6 SGB V normspezifisch auszulegen ist. § 31 Abs. 6 SGB V trifft speziell in Hinblick auf das Medikament Cannabis eine abweichende Regelung von den für gewöhnlich nach dem SGB V anzulegenden Evidenzanforderungen.
Damit muss in der Auslegung des Begriffs der schwerwiegenden Erkrankung auch auf die spezifische Wirkung von Cannabis als Medizin abgestellt werden. Bei der Behandlung mit Cannabis steht dabei insbesondere die Linderung von Symptomen, welche – wie etwa die Schmerzen eines Antragstellers – die Lebensqualität erheblich einschränken, im Vordergrund.
„Schwerwiegende Erkrankung“ muss daher im Kontext des § 31 Abs. 6 SGB so ausgelegt werden, dass es vor allem um eine Einschränkung der Lebensqualität geht. Medizinisches Cannabis verbessert vordergründig die Lebensqualität der Patientinnen durch Verminderung der Symptome, beispielsweise von Schmerzen oder Appetitlosigkeit (so auch die Homepage des Bundesgesundheitsministeriums: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/c/cannabis/faq-cannabis-als-medizin.html#c1537; abgerufen am 22.04.2017 um 13:00 Uhr.) – damit ist vordergründig auf die Symptome abzustellen.
Dies wird auch durch den Gesetzeswortlaut und die Gesetzesbegründung deutlich, die eindeutig auf den Nutzen hinsichtlich der Symptome abstellen und nicht, wie insbesondere § 2 Abs 1a SGB V auf eine Heilung der Krankheit bzw. eine Einwirkung auf deren Verlauf (Bundestagsdrucksache 18/8965, S. 21 Abs. 3).
Aus dem Kontext des Gesetzesentwurfes wird zudem deutlich, dass der Gesetzgeber als Zielgruppe insbesondere auch die Patienten im Blick hatte, die bereits zum Zeitpunkt des Erlasses eine Sondergenehmigung nach § 3 Abs. 2 BtMG inne hatten (Vgl.: Ausführungen zu den Kosten in Bundestagsdrucksache 18/8965 „Wird die am 5. April 2016 bestehende Zahl von Ausnahmeerlaubnissen des BfArM für 647 Patientinnen und Patienten zugrunde gelegt, ergäben sich Kosten für die GKV […]“ (S. 16, 5. Abs.); „Für Bürgerinnen und Bürger, die eine medizinische Therapie mit weiteren Cannabisarzneimitteln benötigen, entfällt zukünftig die bisherige eigene Kostentragung für getrocknete Cannabisblüten und Cannabisextrakte nach Maßgabe der zukünftigen Erstattungsregelungen des SGB V“ (S. 16, 6. Abs.). Diese Gruppe war Ende 2016 auf etwa 1000 Patienten angewachsen, die so unterschiedliche Krankheitsbilder wie schwere chronische Schmerzen, Depression, Darmerkrankungen, Spastiken, das Tourette-Syndrom oder Epilepsien aufwiesen.
Bei der Anhörung des Gesetzentwurfes im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages spielte zudem die Frage der Genehmigung einer Erstverordnung durch die gesetzlichen Krankenkassen eine wichtige Rolle. Einige Experten äußerten die Befürchtung, dass die Gesetzliche Krankenversicherung die Genehmigungserfordernis nutzen könnten, die geplante Regelung zu unterlaufen (vergleiche Wortprotokoll der 87. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit am 21. September 2016).
Der Gesetzgeber strich die Genehmigungserfordernisse zwar nicht, ergänzte den vorgelegten Wortlaut aber um die Regelung, dass eine ärztlich verordnete Behandlung mit medizinischem Cannabis nur abgelehnt werden darf, wenn ein begründeter Ausnahmefall vorliegt. Nach der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses, soll durch den Abs. 6 S. 2 so „[…] die Versorgung von Versicherten mit schwerwiegenden Erkrankungen durch den Anspruch auf Cannabis nach S. 1 verbessert werden. Die Genehmigungsanträge bei der Erstversorgung der Leistung sind daher nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen. Damit wird auch der Bedeutung der Therapiehoheit des Vertragsarztes oder der Vertragsärztin Rechnung getragen.“ (Bundestagsdrucksache: 18/10902).