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ACM-Mitteilungen vom 09. Juli 2022

Liebe Leserin, lieber Leser,

in der Schweiz ist die medizinische Verwendung von Cannabis zukünftig erlaubt. Bisher waren Möglichkeiten sehr begrenzt. Wir sind gespannt, ob es der Schweiz gelingt, die Schwächen der deutschen Gesetzgebung aus 2017 zu vermeiden.

Das Urteil von Experten zum am 6. Juli erschienenen Bericht der Bundesopiumstelle über ihre Begleiterhebung fällt vernichtend aus. Sie bemängeln, dass die Aussagekraft begrenzt und die Daten nicht repräsentativ sind.

Zur Erinnerung: Die Verschreibung von cannabisbasierten Medikamenten im Rahmen der Gesetzesänderung vom März 2017 sollte 5 Jahre lang von einer Befragung der verschreibenden Ärzte begleitet werden. Man erhoffte sich Informationen darüber, bei welchen Erkrankungen Cannabis und Cannabinoide verschrieben wurden und mit welchem Erfolg, um einen Anhaltspunkt dafür zu gewinnen, bei welchen Erkrankungen die Krankenkassen in Zukunft die Kosten erstatten sollen.

Bereits in einer Stellungnahme an den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags vom 11.9.2016 vor Inkrafttreten des Gesetzes, hatte die ACM in einer Stellungnahme zum damaligen Gesetzentwurf geschrieben: „Hier wird sich die Frage stellen, wie restriktiv die Ergebnisse der Begleiterhebung und damit die Entscheidung des gemeinsamen Bundesausschusses ausfallen werden. Es ist nicht auszuschließen, dass mit dem Blick auf die Ergebnisse der Begleiterhebung die Krankenkassen bzw. der MDK bereits im Vorfeld die Kostenerstattung sehr restriktiv handhaben, um somit indirekt dafür Sorge zu tragen, dass später nur relativ wenige Indikationen Eingang in die Begleiterhebung und damit in die Diskussion um die zukünftige Kostenerstattung finden.“

Leider hat sich unsere damalige Befürchtung bewahrheitet. Die Krankenkassen haben überwiegend nur bei Schmerzerkrankungen eine Kostenübernahme bewilligt. Patienten mit vielen anderen Erkrankungen müssen cannabisbasierte Medikamente aus der Apotheke selbst bezahlen. Die Begleiterhebung hat alle diese Patienten und ihre Probleme nicht erfasst und kann daher nur ein verzerrtes Bild des Einsatzes von Cannabis und Cannabinoiden in Deutschland liefern. Und nicht nur das: wir haben von Ärzten erfahren, dass sie überhaupt nicht an der Begleiterhebung teilgenommen haben, weil es keinerlei Kontrolle darüber gab, ob die verschreibenden Ärzte auch wirklich an der Erhebung teilnehmen. Das bedeutet, dass nicht nur Zehntausende von Patienten, die ihr Medikament selbst bezahlt haben, nicht erfasst wurden, sondern auch, dass viele Patienten, die die Kosten von der Krankenkasse erstattet bekommen haben, ebenfalls nicht in die Ergebnisse der Begleiterhebung eingeflossen sind.

Wir dokumentieren hier einige Stellungnahmen von Experten, darunter von der Vorsitzenden der ACM, Professorin Dr. Kirsten Müller-Vahl, sowie dem Anwalt Dr. Oliver Tolmein, der Musterprozesse für die ACM geführt hat.

Ein neues Wissenschaftsnetzwerk will den Austausch zum Thema Cannabis als Medizin zwischen Forschern verschiedener Disziplinen erleichtern und Anlaufstelle für Fragen sein.

Viel Spaß beim Lesen!

Franjo Grotenhermen

Inhalt

Studienteilnehmer gesucht für Haaranalysen an der Medizinischen Hochschule Hannover

Die Medizinische Hochschule Hannover sucht Probanden für eine Studie. Gesucht werden Patienten, die ausschließlich orale THC-haltige Cannabis-Medikamente einnehmen (Dronabinol, Sativex, andere Extrakte). Es soll geklärt werden, wie viel THC in die Haare gelangt. Bisher ist es unklar, wie viel THC sich bei der Inhalation von außen an die Haare bindet und wie viel von innen in die Haare gelangt.
Genaue Informationen finden Sie unter dem Button Haarstudie. Ansprechpartnerin ist Celina Lange. Sie kann unter der E-Mail-Adresse Lange.Celina@mh-hannover.de erreicht werden.

Presseschau: Gesetzesänderung Cannabisarzneimittel (Bundesamt für Gesundheit)

Wie das schweizerische Gesundheitsministerium (Bundesamt für Gesundheit) mitteilt, ist das Verbot von Cannabis für medizinische Zwecke ab dem 1. August 2022 aufgehoben.

Gesetzesänderung Cannabisarzneimittel

Per 1. August 2022 wird das Verbot von Cannabis zu medizinischen Zwecken im Betäubungsmittelgesetz aufgehoben. Cannabisarzneimittel können von Ärztinnen und Ärzten ohne Bewilligung des BAG verschrieben werden.

Das Parlament hat am 19. März 2021 eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) verabschiedet, die das Verbot von Cannabis zu medizinischen Zwecken aufhebt. Die Gesetzesänderung erleichtert Tausenden von Patientinnen und Patienten den Zugang zu Cannabisarzneimitteln im Rahmen ihrer Behandlung. Davon betroffen sind vor allem Fälle von Krebs oder Multipler Sklerose, wo der Wirkstoff THC die chronischen Schmerzen lindern kann.
Ab dem 1. August 2022 gelten folgende Regelungen:
Das Verbot für den Einsatz von Cannabis zu medizinischen Zwecken wird aufgehoben. Für Cannabis zu nicht-medizinischen Zwecken gibt es dagegen keine Änderung: Er bleibt verboten.

Durch die Gesetzesänderung wird der Anbau, die Verarbeitung, die Herstellung und der Handel von medizinischem Cannabis dem Bewilligungs- und Kontrollsystem von Swissmedic unterstellt– so wie andere medizinisch verwendete Betäubungsmittel (zum Beispiel Methadon, Morphin).

– Für die Behandlung mit Cannabisarzneimitteln braucht es vom BAG keine Ausnahmebewilligung mehr; die Therapiefreiheit wird gewährleistet und die Verantwortung für die Behandlung liegt ausschliesslich bei den Ärztinnen und Ärzten.

– Der kommerzielle Export von Cannabis zu medizinischen Zwecken wird neu erlaubt. Dies schafft wirtschaftliche Perspektiven für inländische Anbauer der Rohstoffe und spezialisierte Hersteller von pflanzlichen Arzneimitteln. Für den Export braucht es eine Bewilligung von Swissmedic.

– Um die Entwicklung der Verschreibung von Cannabisarzneimitteln zu beobachten und mehr Evidenzen zu deren Wirkungen zu gewinnen, wird eine begleitende Datenerhebung durchgeführt. Die verschreibenden Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, dem BAG während der ersten Jahre nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung Angaben zur Behandlung zu übermitteln (obligatorische Meldung). Die Datenerhebung wird als Grundlage für die wissenschaftliche Evaluation der Revision dienen, sowie den zuständigen kantonalen Vollzugsorganen und den verschreibenden Ärztinnen und Ärzten eine Orientierungshilfe geben.

Presseschau: Wissenschaftsnetzwerk Cannabinoide in der Medizin (WCM) gegründet (Finanznachrichten)

Ein neues Wissenschaftsnetzwerk will den Austausch zum Thema Cannabis als Medizin zwischen Forschern verschiedener Disziplinen erleichtern und Anlaufstelle für Fragen sein.

Wissenschaftsnetzwerk Cannabinoide in der Medizin

Erfahrene deutschsprachige Wissenschaftler wollen den fachlichen Austausch zu Cannabinoiden in der Medizin fördern, sowohl hinsichtlich ihres therapeutischen Nutzens als auch hinsichtlich ihrer Risiken. Dazu haben sich ausgewiesene Experten aus unterschiedlichen Bereichen der Medizin zum Wissenschaftsnetzwerk Cannabinoide in der Medizin (WCM) zusammengeschlossen. Das WCM versteht sich zudem als Ansprechpartner für alle Fragen rund um das Thema Cannabinoide in der Medizin. „Wir haben mit dem WCM einen informellen Rahmen für einen Dialog zwischen Forschenden aus verschiedenen Disziplinen geschaffen“, erklärt Gründungsmitglied Professorin Dr. med. Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin in der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Aber wir wollen nicht nur den fachlichen Austausch unter Expert:innen erleichtern, sondern stehen auch allen anderen Personengruppen zur Verfügung, die kompetente Antworten suchen.“

Angesichts der Vielzahl der Akteure und der zum Teil widersprüchlicher Informationen zum Thema Cannabis und Cannabinoide in der Medizin ist es mittlerweile nicht immer leicht, den Überblick zu behalten und kompetente Ansprechpersonen zu finden. Dem will das WCM Abhilfe schaffen.

So heißt es im Selbstverständnis auf seiner Internetseite: „Das WCM ermöglicht einen transdisziplinären und interprofessionellen Austausch, um den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu Cannabinoiden in der Medizin zu fördern. Es ist offen für Anfragen aus der Medizin und anderen Gesundheitswissenschaften, Politik, Industrie, Medien und anderen gesellschaftlichen Akteur*innen, die kompetente wissenschaftsbasierte Antworten auf Fragen aus dem gesamten Spektrum pharmakologischer und toxikologischer Wirkungen cannabisbasierter Medikamente und anderer Modulatoren des Endocannabinoidsystems suchen.“

Die sieben Gründungsmitglieder sind
Professor Dr. rer. nat. Dipl.-Chem. Volker Auwärter, Universitätsklinikum Freiburg
Dr. med. Knud Gastmeier, Praxis für ambulante Palliativmedizin, Potsdam
Professor Dr. med. Sven Gottschling, Universitätsklinikum des Saarlandes
Dr. med. Franjo Grotenhermen, Zentrum für Cannabismedizin, Steinheim/NRW
Professor Dr. med. Matthias Karst, Medizinische Hochschule Hannover
Privatdozent Dr. med. Christian Kessler, Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin
Professorin Dr. med. Kirsten Müller-Vahl, Medizinische Hochschule Hannover

Internetseite

Kontakt und verantwortlich im Sinne des Presserechts:

Prof. Dr. Volker Auwärter
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Freiburg
Albertstraße 8
79104 Freiburg im Breisgau
E-Mail: volker.auwaerter@uniklinik-freiburg.de

Prof. Dr. med. Sven Gottschling
Zentrum für altersübergreifende Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
Gebäude 69.DG
66421 Homburg
E-Mail: zentrum.palliativmedizin@uks.eu

Presseschau: Abschlussbericht Cannabis in der Medizin (Science Media Center)

Das Science Media Center hat Experten zu ihrer Einschätzung der Ergebnisse der Begleiterhebung befragt.

Abschlussbericht Cannabis in der Medizin

– BfArM-Abschlussbericht Cannabis in der Medizin veröffentlicht
– starker Fokus auf Schmerztherapie und Unterfassung bei Hausärzten und Cannabisblüten
– Limitationen schränken Aussagekraft zu Bewilligungen durch die Kassen teils stark ein

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat am 6.7.2022 seinen Abschlussbericht zur Begleiterhebung von Cannabis in der Medizin veröffentlicht. Mit der Erhebung war das BfArM 2017 beauftragt worden, als der Bund die Möglichkeit zur Verschreibung von Cannabisarzneimitteln zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung gesetzlich verankert hatte. Ärztinnen und Ärzte waren seitdem dazu verpflichtet, anonym Daten zur Therapie mit Cannabisarzneien zu melden, zum Beispiel die jeweilige Erkrankung des Patienten, die Dosierung, Wirkung und die Nebenwirkungen. Die Begleiterhebung dient vor allem dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Entscheidungsgrundlage für eine mögliche Kostenübernahme weiterer Therapieansätze mit Cannabinoiden.

Dem Bericht zufolge wurden vor allem Schmerzen mit Cannabisarzneien behandelt (76,4 Prozent), gefolgt von Spastiken (9,6) und Anorexie (5,1). In 14,5 Prozent der Fälle lag eine Tumorerkrankung vor, in 5,9 Prozent multiple Sklerose. In den meisten Fällen (62,2 Prozent) verordneten die Ärztinnen und Ärzte den Wirkstoff Dronabinol, zum Beispiel als in der Apotheke hergestellte Rezeptur oder als Fertigarznei, gefolgt von Cannabisblüten (16,5) und -extrakten (13). Typische Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel, Schläfrigkeit und Übelkeit traten bei der Verwendung aller Cannabismittel häufig auf. Schwerwiegende Nebenwirkungen wie Depression (1,2 Prozent), Halluzinationen (0,7) und Sinnestäuschungen (0,6) kamen selten vor.

Cannabisarzneien wurden Männern und Frauen insgesamt gleich häufig verschrieben – dem Bericht zufolge vornehmlich von Fachärzten der Anästhesiologie (52,5 Prozent) und weniger von den niedergelassenen Hausärzten (knapp 25 Prozent). Das BfArM betont jedoch, dass sich diese Daten nicht mit Auswertungen der Krankenkassen decken, nach denen vor allem die Hausärzte Cannabisarzneien verschreiben. Dies lasse vermuten, dass Anästhesisten womöglich konsequenter an der eigentlich verpflichtenden Begleiterhebung teilgenommen hätten als die niedergelassenen Ärzte, wodurch es im Bereich der Allgemeinmedizin zu einer Untererfassung gekommen sei.

Dieser Umstand sei vor allem mit Blick auf die Verschreibung von Cannabisblüten zu beachten, betont das BfArM. Denn die Blüten werden hauptsächlich von Hausärzten besonders jüngeren Männern verschrieben und weisen im Vergleich zu Dronabinol eine 16-fach höhere mittlere Tagesdosis an Tetrahydrocannabinol (THC) auf, dem Hauptwirkstoff der Cannabispflanze. Die Blüten werden meist mittels eines Verdampfers inhaliert, wodurch es zu einer sehr schnellen Anflutung von THC im Blut kommt – aber ebenso auch zu einer schnellen Abflachung der THC-Spiegel. Es stelle sich daher die Frage, schreibt das BfArM, inwiefern eine andere Art der Wirkung eintritt, als es bei den anderen Cannabisarzneimitteln der Fall ist. Die Ergebnisse zu Cannabisblüten betrachte man mit Sorge.

Die internationale Studienlage zur Wirksamkeit von Cannabis in der Medizin, insbesondere bei stark THC-haltigen Präparaten, ist derzeit noch moderat, für viele therapeutische Ansätze fehlen umfassende Untersuchungen. In 75 Prozent der Fälle wurde der BfArM-Erhebung zufolge ein positiver Therapieeffekt berichtet. Eine Einschätzung zur tatsächlichen Wirksamkeit lässt sich daraus aber nicht ableiten. Das BfArM möchte die Begleiterhebung explizit nicht als klinische Studie verstanden wissen, sondern als Grundlage für ebensolche.

Das SMC hat Forschende zur Relevanz des Berichts befragt und dazu, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.

Die folgenden Statements von Fachleuten sowie weitere Informationen stellt Ihnen das Science Media Center Germany für Ihre Berichterstattung zur Verfügung. Ein Hinweis auf das SMC als Quelle der Statements und Informationen ist nicht nötig.

Übersicht

– Prof. Dr. Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn
– Prof. Dr. Winfried Meißner, Chefarzt der Abteilung Palliativmedizin und Leiter der Sektion Schmerztherapie, Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Jena, sowie Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.
– Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie sowie Leiterin der Arbeitsgruppe Tourette, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
– Dr. Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht und Honorar-Professor an der Juristischen Fakultät, Georg-August-Universität Göttingen
– Prof. Dr. Ursula Havemann-Reinecke, Professorin für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin und Senior Scientist, Universitätsmedizin Göttingen
– Prof. Dr. Frank Petzke, Leiter Schmerzmedizin, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin Göttingen

Statements

Prof. Dr. Winfried Meißner
Chefarzt der Abteilung Palliativmedizin und Leiter der Sektion Schmerztherapie, Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Jena, sowie Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.

Aufgrund der offenbar fehlenden Repräsentativität – nur 16.800 Datensätze bei wohl mehr als 70.000 Behandlungsfällen laut Kassendaten sowie 52 Prozent Anästhesisten (=Schmerzexperten) in der Begleiterhebung, obwohlim Alltag aber Allgemeinmediziner die häufigsten Verschreiber sind – sind Aussagen zu Effektivität und Nebenwirkungen nicht wirklich möglich. Wie die Autoren auch schreiben: Es ist an der Zeit, dass die medizinische Zulassung und Erstattung durch die Solidargemeinschaft von Cannabinoiden auf der Basis hochwertiger Studien erfolgt – wie bei allen anderen Medikamenten – und das derzeitige Prozedere eine Übergangslösung bleibt.

Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl
Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie sowie Leiterin der Arbeitsgruppe Tourette, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

Die Aussagekraft des Berichts ist leider extrem gering. Es steht wenig Neues drin, das wir nicht vorher schon wussten. Der Datensatz ist unvollständig und die Methoden schwach, was die Autoren ja auch selbst stets betonen. Das Wichtigste in meinen Augen ist aber, dass der Bericht klar zeigt, bei welchen Indikationen die Krankenkassen die Kosten für Cannabisarzneien übernehmen sollten. Und dies ist sehr eindeutig vor allem in der Schmerztherapie der Fall. In dem Bericht wird suggeriert, Cannabisarzneien seien Schmerzmittel. Richtig ist aber: Drei Viertel aller Anträge, die bewilligt werden, entfallen auf den Bereich Schmerz. Kostenübernahmeanträge etwa bei psychiatrischen Indikationen werden hingegen sehr häufig abgelehnt – mit der Begründung, die Leiden seien nicht schwerwiegend genug, es stünden andere Therapien zur Verfügung oder es fehle an Evidenz für die Behandlung. Dies ist der Grund, warum psychiatrische Erkrankungen – aber auch viele andere Störungen – in dem Bericht nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Selbst in meiner Spezialambulanz werden in jüngster Zeit fast alle Kostenübernahmeanträge abgelehnt, während vergleichbare Anträge in der Vergangenheit bewilligt wurden. Diese Praxis führt natürlich auch bei meinen Kolleg:innen zu einem gewissen Lerneffekt: Werden für eine bestimmte Indikation mehrere Anträge in Folge abgelehnt, dann stellt man irgendwann hierfür keinen Antrag mehr. Dieses Wissen, dass in der Begleiterhebung nur die Daten erfasst werden, für die zuvor von den Krankenkassen eine Kostenübernahmezusage erteilt wurde, muss bei der Interpretation der Ergebnisse stets berücksichtigt werden, um Fehlbewertungen zu vermeiden.

Richtig ist zwar, dass die Datenlage für die Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente bei psychiatrischen Erkrankungen bis heute gering ist. Allerdings können wir vielen unserer Patient:innen nur begrenzte Therapieangebote machen. So ist etwa für die Behandlung von Tics (meist kurze Bewegungen oder Lautäußerungen, die oft in rascher Abfolge und ohne ersichtlichen Bezug zur aktuellen Situation wiederholt werden; Anm. d. Red.) überhaupt nur ein einziges Medikament offiziell zugelassen, welches heute wegen schwerwiegender Nebenwirkungen gar nicht mehr empfohlen wird. Es ist daher sehr bedauerlich, dass die Krankenkassen durch eine Ablehnung der Kostenübernahmen neue, innovative Therapien verhindern.

Auf die Frage, wie es zu bewerten ist, dass offenbar vor allem jungen Männern häufig Cannabisblüten verschrieben werden, die einen deutlich höheren THC-Gehalt haben als Fertigarzneien:
Hierbei muss man auch berücksichtigen, dass Cannabisblüten tendenziell eher von jüngeren Personen benutzt werden, da diese Art der Therapie gewisse kognitive Fähigkeiten und ein manuelles Geschick erfordern. Älteren Menschen mit schweren Erkrankungen fällt es einfach schwerer, die richtigen Dosen abzuwiegen und in die Verdampfer einzufüllen. In dem Bericht wird zudem suggeriert, Cannabisblüten machten eher abhängig als andere Cannabisarzneimittel. Dies wird immer wieder gemutmaßt, obwohl es keine Daten gibt, die diese These stützen. Interessant ist, dass in dem Bericht festgestellt wird, dass Cannabisblüten seltener zu Nebenwirkungen führen, dies aber mit dem jüngeren Alter der Patient:innen erklärt wird, statt zu diskutieren, dass Blüten eventuell tatsächlich besser verträglich und besser dosierbar sind.

Uns fehlen weitere klinische Studien zur Wirksamkeit von Cannabisarzneien. Die Pharmaindustrie ist hier bei der Finanzierung aber sehr zurückhaltend. Daher muss eine Förderung durch den Bund erfolgen. Nur so können wir Daten gewinnen, die uns verlässliche Aussagen über die Wirksamkeit von Cannabisarzneien liefern.

Dr. Oliver Tolmein
Fachanwalt für Medizinrecht und Honorar-Professor an der Juristischen Fakultät, Georg-August-Universität Göttingen

Das BfArM hat es so gut gemacht, wie es unter den Bedingungen möglich war. Es war klar, dass dieser Bericht keine klinische Studie ersetzen kann und die Daten zeigen ja auch, dass es erheblichen Forschungsnotstand gibt.

Das Interessante an dem Bericht ist, dass sich vergleichsweise wenig Ärzte beteiligt haben. Das hat auch damit zu tun, dass wir hier eine zusätzliche Schwierigkeit haben: die Stigmatisierung von Cannabis. Viel zu lange wurde Cannabis ausschließlich als Droge klassifiziert und der Konsum beziehungsweise der Anbau strafrechtlich verfolgt. Es gibt nur wenige Ärzte, die über ausreichend medizinische Expertise verfügen mit Cannabis zu therapieren – wie sollte das auch anders sein. Dazu kommt, dass es für Ärztinnen und Ärzte einen hohen Aufwand bedeutet, Cannabis zu verschreiben. Mit der Vor- und Nachbereitung eines Antrags sind die Ärzte nicht selten monate- manchmal sogar jahrelang immer wieder gefordert, auf Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes zu reagieren, ihre Therapien den Gerichten zu erläutern und Stellungnahmen für die Anwält*innen zu verfassen. Das wird den Ärzten nicht bezahlt – und das nervt sie.

Ein weiteres Problem ist, dass die Krankenkassen ein immer klareres Regime entwickeln: Cannabisblüten sind ganz unbeliebt. Die Kassen möchten lieber synthetische Cannabisprodukte. Verordnungen werden am ehesten in der Schmerztherapie zugelassen; sehr selten dagegen zum Beispiel bei ADHS oder posttraumatischen Belastungsstörungen, beides aber häufige Krankheitsbilder bei den Patienten, die Cannabis benötigen. Ich vertrete knapp ein Dutzend ehemaliger Soldaten, die psychische Störungen entwickelt haben. Und Cannabis hilft ihnen.

Auf die Frage, wie es zu bewerten ist, dass offenbar vor allem jungen Männern häufig Cannabisblüten verschrieben werden, die einen deutlich höheren THC-Gehalt haben als Fertigarzneien:
Es wird ja suggeriert, dass sich hier Kiffer ein Rezept abholen. Das halte ich in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle für unzutreffend. Es gibt gute Gründe, auf Blüten zu setzen und nicht auf synthetisierte Cannabisprodukte (die auch ihren Sinn haben). Blüten wirken anders und in etlichen Fällen auch besser. Für dieses Phänomen gibt es bisher nur wenige Antworten, aber es gibt ja auch viel zu wenig Forschung.

Im Rahmen der Debatte zur Legalisierung von Cannabis, kommen die Patienten, die Cannabis als Medizin brauchen, oftmals zu kurz. Diese Menschen brauchen viel Cannabis. Für sie ist das ein Medikament und kein Genussmittel. Der Bericht des BfArM soll Grundlage für eine Cannabis-Richtlinie des G-BA abgeben. Wenn der sich die Anti-Blüten-Haltung zu eigen machte, wäre das fatal. Ich sehe die Vorteile in der Standardisierung der Einnahmen. Aber das ist auch mit den Blüten in den Griff zu bekommen. Und auch die Nebenwirkungen von Cannabis – insbesondere auch in Blütenform, sind gering, sie liegen im Bagatellbereich, ganz im Gegensatz zu den Symptomen der Erkrankungen, an denen die Patienten leiden.

Wenn man die Diskussion um die Freigabe von Betäubungsmitteln für Zwecke der Selbsttötung betrachtet, steuern wir auf das Paradoxon zu, dass jeder Anspruch haben soll, sich qualifiziert beraten zu lassen, wie er sich mit Betäubungsmitteln selbst oder mit ärztlicher Hilfe töten kann.Aber eine flächendeckende Struktur, die ermöglicht, dass sich jeder Patient qualifiziert, beraten lassen kann, wie ihm Cannabis helfen kann und wie er es bekommen kann, das geht nicht.

Prof. Dr. Ursula Havemann-Reinecke
Professorin für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin und Senior Scientist, Universitätsmedizin Göttingen

Es ist positiv, dass es eine Untersuchung des BfArM zu den durchgeführten Verordnungen von Cannabisarzneimitteln gibt, die, wie intendiert, zu klinischen Placebo-kontrollierten, aber auch experimentellen Forschungsvorhaben inspiriert. Aber die Frage bleibt, wer diese Forschungsvorhaben finanziert. Wichtig ist, dass es wissenschaftliche, nicht finanziell und interessensgeleitete unabhängige Forschungsprogramme gibt, die derartige Forschungen finanziell unterstützen. Leider ist dies aktuell nicht der Fall.

Es ergeben sich aus dem Bericht viele für die Praxis relevante Fragen, die teils auch für künftige Forschungen interessant sein können: So bleibt zum Beispiel in dem Bericht völlig offen, inwieweit es auch zu einer Entwicklung von missbräuchlichem oder abhängig machendem Konsum als Nebenwirkung der Cannabisarzneien gekommen sein könnte. Es gibt ferner keine Daten zu psychischen Komorbiditäten wie Angst und depressive oder psychotische Erkrankungen, auch nicht zu Komorbiditäten mit anderen Suchterkrankungen wie solchen bedingt durch Tabak, Alkohol oder zu Opioid-bedingten Störungen. Diese Fragen sind vor allem für die Patienten, die Cannabisblüten verordnet bekommen haben, besonders interessant.

In dem Bericht wird sehr deutlich, dass die Anästhesisten und die Ärzte mit dem Zusatztitel ,Schmerzmedizin\‘ Cannabisarzneimittel am häufigsten und weniger Blüten verordneten, und gleichermaßen Daten in die Studie eingegeben haben. Aber es wird auch deutlich, dass die zweithäufigste Cannabisarzneien verordnende Gruppe der Allgemeinmediziner deutlich weniger Meldungen vorgenommen hat, aber gleichzeitig am meisten Cannabisblüten verordneten. Da wäre zum Beispiel auch interessant zu wissen, welche der Allgemeinmediziner hier eine Zusatzbezeichnung ,Suchtmedizinische Grundversorgung\‘ hatten.

Der zweithäufigste Grund für die Beendigung der Therapie war dem Bericht zufolge das Versterben des Patienten. Hier wäre die Todesursache interessant. Handelt es sich hierbei vor allem um Palliativpatienten? Das bleibt unklar.

Patienten, denen Cannabisblüten verordnet wurden, scheinen nach der Untersuchung trotz der sehr hohen THC-Konzentrationen von fast 250 Milligramm weniger Nebenwirkungen aufzuweisen, sodass dies deutlich tolerantere Patienten sein müssen, vielleicht sogar Patienten mit sehr viel Vorerfahrung. Allerdings wurden in der Untersuchung wie zuvor dargelegt ein potenziell schädlicher oder abhängiger Konsum nicht erfragt. In dem Bericht wird ein möglicherweise THC-antagonisierender Effekt vonCannabidiol diskutiert. Aus der Grundlagenforschung jedoch gibt es hierfür keine deutliche Evidenz. Demnach können THC-Intoxikationen nicht durch Cannabidiol antagonisiert werden.

Grundsätzlich ist nicht bekannt, wie viele Patienten sich womöglich zusätzlich bei weiteren Ärzten in Behandlung begeben haben oder sich nebenher auf dem Schwarzmarkt mit Cannabis oder anderen Substanzen versorgt haben.

Interessant ist auch der sehr hohe Anteil der gleichzeitigen Verordnung von Cannabisarzneien und Opioiden wohl im Rahmen der Schmerztherapie. Hier sollte für die Diskussion ergänzt werden, dass THC oder Cannabidiol den Opioid-Abbau über pharmakokinetische Wechselwirkungen verhindern oder zumindest stark mindern können, was bei einer Kombinationstherapie stets berücksichtigt werden sollte.

Prof. Dr. Frank Petzke
Leiter Schmerzmedizin, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin Göttingen

Der Bericht hat vor allem zwei Kernprobleme: Aufgrund der kleinen, unvollständigen Stichprobe der tatsächlichen Verordnungen entspricht er nicht der gesamten Verordnungsrealität. Wir haben hier womöglich zudem eine Positivauswahl motivierter und qualifizierter Ärzte, die auch dokumentieren, was zu besseren Ergebnissen beitragen könnte. Auch beruht der Bericht nur auf Einschätzungen der behandelnden Ärzt*innen, was ein schwer zu definierender Bias ist. Es ist unklar, wie valide die rückblickende Fremdbeurteilung von Wirkungen und Nebenwirkungen zu bewerten ist.

Für die Schmerztherapie liefert der Bericht einige wichtige allgemeine Botschaften. Schmerz ist die wichtigste Indikation, dahinter verbirgt sich aber eine Vielzahl von Diagnosen, mit letztlich zum Teil kleinen Fallzahlen, wie zum Beispiel für das Fibromyalgiesyndrom. Daraus lassen sich kaum weitere Schlüsse für die Klinik ableiten, da wir wenig Spezifisches über diese Patienten erfahren, insbesondere auch nicht, warum ihre Erkrankung schwerwiegend war. Die meisten Patienten erhielten Dronabinol, Sativex oder Extrakte mit sehr moderaten Dosierungen von 10 bis 15 Milligramm THC pro Tag. Dass Schmerz die Indikation ist, die wahrscheinlich am häufigsten von den Kassen akzeptiert wird, verleitet natürlich dazu, den Einsatz von medizinischem Cannabis auch vornehmlich im Bereich Schmerz zu begründen. Antragssteller neigen jetzt oder in Zukunft vielleicht eher dazu, einen Antrag im Bereich Schmerz zu stellen. Einige unserer Patienten wurden zum Beispiel von ihrem Psychiater geschickt mit der Bitte, ob wir nicht einen Antrag stellen können. Hier braucht es bessere übergeordnete Abstimmungen und gemeinsame Behandlungskonzepte.

Grundsätzlich ist anzumerken, dass es im Bereich des medizinisch verwendeten Cannabis keine zufriedenstellende Evidenz gibt. Es sind für viele Mittel keine Studien gemacht worden, vor allem keine Studien zu den Extrakten. Bisher lassen die Hersteller hier wenig Interesse erkennen, entsprechende Untersuchungen zu starten.

Auf die Frage, wie es zu bewerten ist, dass offenbar vor allem jungen Männern häufig Cannabisblüten verschrieben werden, die einen deutlich höheren THC-Gehalt haben als Fertigarzneien:
Ich teile hier die Sorge des BfArM. Viele Patienten, die primär Blüten wollen, haben in der Regel subjektive positive Vorerfahrungen damit, leiden aber oft auch an psychiatrischen Komorbiditäten, sodass die Indikationsstellung und Gesamtbehandlung oft schwierig sind. Sie sind oft schon an höhere Dosen gewöhnt. Allerdings sehe ich auch im klinischen Alltag, dass nicht alle Patienten, die Cannabisblüten verwenden, hohe Dosen brauchen. Die hohe Tagedosis von 249 Milligramm THC mit Blüten gilt nicht für alle Patienten. Viele kommen mit weniger aus. Ein Problem bei der Einschätzung sind die häufig notwendigen Wechsel der Blütensorten, was auch an der noch instabilen Verfügbarkeit liegt.

Prof. Dr. Lukas Radbruch
Direktor der Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn

Ich hatte von dem Bericht eigentlich wenig erwartet. Von daher ist es schon interessant, dass ein großer Datensatz zur Auswertung zusammenkam. Die Aussagekraft ist natürlich stark eingeschränkt, weil dieser Bericht nur einen Teil davon abbildet, was verordnet wurde.

Wir hatten von Anfang das Gefühl, dass wir nicht wissen, warum Cannabisblüten so gehypt wurden und es ist immer noch nicht wirklich klar, welchen Vorteil die Blüten, bei denen die Hauptwirkstoffe mit einer Vielzahl von anderen Substanzen vorliegen, bieten. Die Blüten erzeugen dem Bericht zufolge nicht weniger Nebenwirkungen als andere Cannabismedikamente. Auch wird die Wirksamkeit von den Behandlern als sehr hoch beschrieben. Das ist aber keine klinische Studie, und wir wissen nicht, ob das einen systematischen Fehler hat, also ob nur gemeldet wird, wenn es funktioniert. Als Therapeut sieht man ja gern mal einen guten Effekt. Daraus kann man deshalb nur wenig zur Wirkung von Cannabis schließen. In der Schmerztherapie können mit Cannabis durchaus Erfolge erzielt werden, wobei hier nie sehr eindeutig klar wird, ob durch das Cannabis tatsächlich der Schmerz gelindert wird oder der euphorisierende Effekt so manches übertüncht.

Zu kritisieren ist, dass es keine Zahlen zur Abhängigkeit in dem Bericht gibt. Zudem wird grundsätzlich nicht so recht klar, dass Cannabis kein harmloses Medikament ist. Es ist kein Allheilmittel, das man breitflächig unter die Leute streuen sollte.

Wir benutzen in der Klinik Cannabis, vornehmlich Dronabinol, obwohl es ein lausiges Medikament ist. Für Übelkeit oder Appetitslosigkeit gibt es etwa viel bessere Arzneien. Viele unsere Patienten brechen die Cannabistherapie ab aufgrund der Nebenwirkungen wie Müdigkeit. Aber wenn ich einen Krebspatienten habe, der selbst schon an Schmerzen, Appetitmangel und Übelkeit leidet, kann ich ihm drei Medikamente verabreichen oder ich versuche es mit Cannabis. Insbesondere bei Palliativpatienten werde ich nicht zum Moralapostel. Da ist mir schon klar, dass ich mit Cannabis vermutlich wenig an der Schmerzleitbahn bewirke, sondern dass bei den Patienten die euphorische Wirkung im Vordergrund stehen kann. Wobei man hier auch klar sagen muss, dass viele Patienten, vor allem ältere, diese Wirkung gar nicht schätzen.

Presseschau: Cannabisfreigabe: Lauterbach will Eckpunkte im Herbst vorlegen (Deutsches Ärzteblatt)

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will bis zum Herbst Eckpunkte für die geplante Cannabisfreigabe vorlegen. Das erklärte er in Berlin beim Abschluss des Konsultationsprozesses zur Vorbereitung des Gesetzgebungsprozesses.

Cannabis­freigabe: Lauterbach will Eckpunkte im Herbst vorlegen (Süddeutsche Zeitung)

Seit Mitte Juni hatten in vier digitalen Expertenanhörungen mehr als 200 Fachleute aus Suchtmedizin, Sucht­hilfe, Rechtswissenschaften, Wirtschaft und Verbänden sowie Vertreterinnen und Vertreter von Ländern, Kom­munen, Bundesministerien und Bundesbehörden über das geplante Gesetzesvorhaben diskutiert.

Der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhardt Blienert (SPD), hat heute seinen Kon­sultationsprozess mit der fünften und letzten Anhörung beendet. Der Fokus des Kongresses lag auf Erfahrun­gen anderer Länder und ihrem Umgang mit einer Cannabislegalisierung oder -entkriminalisierung.

„Die Ampelregierung will die kontrollierte Abgabe von Cannabis zu Genusszwecken. Dafür haben wir einen aufwendigen Konsultationsprozess vorgeschaltet“, erklärte Lauterbach zur Eröffnung. Er kündigte an, im Herbst ein Eckpunktepapier präsentieren zu wollen, das auf der Grundlage der erfolgten Konsultationen nun erarbeitet wird.

„Ende des Jahres wollen wir einen Referentenentwurf vorlegen, so dass wir mit dem Gesetzgebungsverfahren nächstes Jahr durchstarten können“, kündigte er weiter an. Für die geplante Freigabe sei das Prinzip „Safety First“ entscheidend.

Cannabis solle mit der geplanten Freigabe nicht verharmlost werden, sondern das Vorhaben müsse von guten neuen Regelungen bezüglich Anbau, Produktion, Verkauf, aber auch Jugendschutz, Straßenverkehrsrecht und Strafrecht begleitet werden, so Lauterbach: „Das Vorhaben ist alles andere als trivial.“ Trotzdem sei die ge­plante Freigabe wichtig, denn der derzeitige repressive Umgang mit Cannabis sei gescheitert, betonte Lau­terbach.

50 Prozent der jungen Erwachsenen konsumieren Cannabis
In Deutschland würden Lauterbach zufolge rund vier Millionen Menschen Cannabis nutzen. Bei den 18- bis 25-Jährigen seien es sogar rund 50 Prozent. Im Hinblick auf andere Länder, in denen Cannabis legal ist, sei der Konsum nach der Freigabe aber nicht angestiegen.

Gefährlich seien insbesondere die großen Schwankungen hinsichtlich der Reinheit der Cannabisprodukte auf dem Schwarzmarkt. Verunreinigungen und beigemischte Substanzen könnten gesundheitlich schwerwiegen­de Folgen nach sich ziehen oder sogar dazu führen, dass die Konsumenten auch von anderen Drogen abhän­gig werden, erläuterte Lauterbach.

Der Bundesdrogenbeauftragte Blienert zeigte sich zufrieden mit den erfolgten Konsultationen. „Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele fachkompetente Menschen mit ihren unterschiedlichen Meinungen zum Thema Cannabis sehr sachlich und produktiv über die Kernpunkte und die zentralen Fragen auf dem Weg zur kontrollierten Cannabisabgabe ausgetauscht haben. All diese Ergebnisse werden wir jetzt zusammenfas­sen und auswerten.“ Er sei zudem froh, dass endlich auch über Entstigmatisierung geredet wird.

Blienert betonte auch das Thema Jugendschutz, das mit der Freigabe mitgedacht werden muss. In einer ent­sprechenden Diskussionsrunde erklärte Gabriele Sauermann von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), dass die Cannabisdebatte „aus der Schmuddelecke“ rauskommen müsse und das Thema endlich offen in Familien und Schulen besprochen werden sollte.

Präventionsmaßnahmen müssten zudem in der Lebenswelt der Teenager stattfinden, also auch im Freizeitbe­reich. Der Geschäftsführer des Deutschen Hanfverbandes, Georg Wurth, betonte, dass zudem nicht die Polizei die Aufklärung an den Schulen übernehmen sollte. „Das trägt nicht zum offenen Gespräch und zur Glaub­würdigkeit bei“, sagte Wurth.

Auch in anderen Ländern wird das Thema Jugendschutz groß geschrieben. In Malta gab es etwa schon einige Jahre vor der Legalisierung Präventions­programme, berichtete Mariella Dimech von der maltesischen Canna­bis­­behörde. Malta hatte Ende vergangenen Jahres als erstes EU-Land den Besitz von bis zu sieben Gramm Cannabis für Erwachsene und damit den Konsum legalisiert.

Jugendschutz in Colorado: Kein Cannabis in Obstform
Im US-Bundesstaat Colorado wird ein großer Fokus daraufgelegt, die Cannabisprodukte möglichst wenig attraktiv für Minderjährige zu gestalten. So dürfen sie etwa nicht wie beispielsweise Gummibärchen in Form von Menschen, Tieren oder Früchten verkauft werden, erklärte Dominique Mendiola, Senior Director der „Marijuana Enforcement Division“ in Colorado.

Außerdem gilt in Colorado, wo Cannabis schon 2012 freigegeben wurde, eine Obergrenze von 10mg THC für jede Einzelportion sowie maximal 100mg pro Produkt. Außerdem gebe es Verkaufslimits. Obergrenzen der THC-Konzentration gebe es in Colorado allerdings nicht, so Mendiola.

Gegen eine Obergrenze für den deutschen Kontext sprach sich auch Wurth aus. „Wenn es eine THC-Ober­gren­ze gibt, dann wird der Schwarzmarkt weiter bedient“, so der Vertreter der Hanf-Lobby. Er plädiere für mög­lichst wenige Einschränkungen bei den verkauften Cannabis-Produkten.

Einig waren sich die Experten darin, dass die Qualität des freigegebenen Cannabis sichergestellt werden müsste. Auch hier gab Mendiola einen Einblick der Vorgehensweise in Colorado. Der Fokus liege auf umfäng­licher Überwachung der Anbau- und Produktionsanlagen als auch der Cannabis-Produkte selbst.

Das fertige Genusscannabis müsste etwa mit einer Nummer, die sich auf die jeweilige Ernte bezieht, verse­hen sein, erläuterte Mendiola. Allerdings dürfen in Colorado Cannabispflanzen auch in limitierter Anzahl für den persönlichen Gebrauch angebaut werden, ähnlich ist es auch beispielsweise in Südafrika geregelt. In Süd­afrika hat das dortige Verfassungsgericht 2018 den privaten Konsum von Cannabis für legal erklärt.

Zufriedenheit in Kanada
Einschränkungen bei Produktkategorien hatte auch Kanada verhängt. Als der Ahornstaat als erste große Industrienation landesweit den Freizeitgebaruch legalisierte, ging die Regierung stufenweise vor, erklärte John Clare, Leiter der Abteilung „Cannabis und Betäubungsmittel“ des kanadischen Gesundheits­ministeriums.

So seien in einem ersten Schritt ab Oktober 2018 lediglich getrocknete Blüten, Öle und Samen zum Anbau freigegeben worden. Erst nach der Ausarbeitung eingehender gesetzlicher Vorschriften seien andere Produkt­kategorien wie Edibles oder Extrakte unter Auflagen erlaubt worden.

Die Cannabisfreigabe sei in Kanada ähnlich abgelaufen wie in Deutschland, nämlich zu Beginn mit einem ausführlichen Konsultationsprozess. „Legalisierung ist kein Ereignis, sondern ein Prozess“, sagte Clare.

Die bisherige Evaluation der Cannabisfreigabe zeige, dass wesentliche Ziele erreicht wurden, während uner­wünschte Nebeneffekte blieben. So sei neben: So sei die Prävalenz des Cannabiskonsums seit der Legalisie­rung nicht wesentlich gestiegen, auch nicht in der Altersgruppe der 16- bis 19-Jährigen.

Auch Hochrisikoverhalten wie täglicher oder beinahe täglicher Konsum habe nicht zugenommen. Der Schwarz­markt wiederum sei zwar nicht umgehend ausgetrocknet worden, der Trend sei jedoch eindeutig: Seine Rolle nähme kontinuierlich ab.

„Sowohl Umfragen als auch Marktdaten zeigen, dass es eine substanzielle Verschiebung vom illegalen in den legalen Markt gibt“, erklärte Clare. Im ersten Quartal 2022 seien 66,7 Prozent des konsumierten Cannabis über den legalen Markt erworben worden. Knapp die Hälfte der Konsumenten würde ausschließlich im legalen Markt kaufen, nur 14 Prozent ausschließlich auf dem Schwarzmarkt.

Cannabis: Lauterbach rechnet durch Legalisierung mit Einbruch des Schwarzmarkts
Werbeverbot kontraproduktiv?

Dabei setzt Kanada bei der Bekämpfung des Schwarzmarkts weiterhin auf teils strikte Regulierung, inklusive eines Werbeverbots für Cannabis. Ob das auch hierzulande der richtige Weg ist, ist umstritten. „Ein komplettes Werbeverbot hat einen Nachteil für den legalen Bereich, der sich gegen den Schwarzmarkt durchsetzen will“, erklärte Justus Haucap, Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie.

Man wolle Konsumentenströme kanalisieren, deshalb werde man ein Minimum an Werbung benötigen – allein schon, damit die Konsumenten informiert werden, wo sie qualitativ hochwertige und sichere Produkte erwerben können. DHS-Vertreterin Sauermann hingegen setzt sich vor allem aus Jugendschutzgründen für ein komplettes Werbeverbot, auch in den sozialen Medien ein.

Die wahrscheinlich wichtigste Stellschraube zur Austrocknung des Schwarzmarktes ist hingegen die Besteuerung: Cannabis muss teuer genug sein, um den Konsum nicht zu befeuern, aber gleichzeitig so günstig, dass Konsumenten nicht aus Kostengründen auf dem Schwarzmarkt einkaufen.

„Der Markt ist wahrscheinlich bereit, ein Stück über den Schwarzmarktpreis zu gehen“, sagte Dirk Heitepriem, Vizepräsident des Branchenverbandes Cannabiswirtschaft. Der schlägt vor, auf Grundlage des psychoaktiven Wirkstoffs THC zu besteuern: 10 EURo pro 1000 mg THC. Welches Besteuerungsmodell die Bundesregierung schließlich wählen wird, bei der Entscheidung dieser Frage sollte ebenjener Konsultationsprozess behilflich sein. © cmk/lau/aerzteblatt.de

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